...

Seit zwanzig Minuten redete die Meute selbsternannter Propheten nun schon auf Braunscheid ein.
"Nach Norden", sagte einer der Polizisten, "wir müssen sofort umdrehen! Wenn Sie von Norddeutschland kommen und Richtung Süden unterwegs sind, sollten Sie in keinem Fall ... in diese Richtung weiterfahren, haben die sicher gesagt!"
"Schwachsinn!", sagte ein Blonder mit Latzhose, und vielleicht, überlegte Braunscheid, überlegte der Polizist, ob er ihn, den Latzhosigen, augenblicklich wegen Beamtenbeleidigung anzeigen sollte, den Gedanken dann aber rasch verwarf, weil er sich plötzlich unsicher war, ob überhaupt jemals wieder eine Gerichtsverhandlung stattfinden würde, "Absoluter Schwachsinn!", sagte der Latzhosige, "die wollten sicher sagen, dass wir auf keinen Fall umdrehen dürfen! Also, Sie bleiben auf jeden Fall auf der A7, okay?"
Braunscheid hatte das ganze Gezeter schweigend über sich ergehen lassen, die Augen weit gegen die Nacht gerichtet als ginge es dabei nicht um ihn, als wäre es nicht letztlich seine Entscheidung, lebensrettend oder tödlich, als wären nicht auch Kinder im Bus, als hätte er nicht schon alleine genug Angst gehabt. Es war beängstigend seltsam, in einem Radio wieder die einzige Informationsquelle zu haben, als wäre seit dem Volksempfänger nichts passiert, als wären die 72 Jahre wachsende Zuversicht auf einmal nur noch Zwischenkriegszeit.

"Wissen Sie was?", brüllte Braunscheid, bis vor kurzem als Mann der leisen und höflichen Worte bekannt, "jetzt halten Sie mal alle die Schnauze. Was die uns im Radio sagen wollten, kriegen wir eh nicht mehr raus. Vielleicht stehen da auch nur Kühe auf der Fahrbahn, wer weiß? Gleich sind wir am Kirchheimer Dreieck, da fahren wir auf die A4 ab, wir fahren in den Osten, richtig in den Osten, nach Sachsen oder Polen, da gibt's doch fast nur Dörfer, da gibt's nicht so viele Löcher."
Bevor jemand etwas erwidern konnte, fiel im hinteren Teil des Busses etwas runter, wahrscheinlich ein Koffer, dachte Braunscheid, doch dann stieß der kleine Junge, der die ganze Fahrt über gekotzt hatte, einen langen lauten Schrei aus, einen Schrei, in dem nichts Kindliches mehr war, nur ein markerschütterndes Entsetzen, und Braunscheid sah die wachsende graue Lache auf seinem schwarz-weißen Überwachungsmonitor, die durch den Gang langsam auf ihn zufloß.

Was hier passiert:

Anfang. Ende. ist ein virtuelles Romanprojekt des Studiengangs Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus: dreizehn Personen, eine Katze, ein Hase und eine fremde Macht. Die Zeichen stehen auf Sturm. In Tagen wird es vorüber sein.

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Aline Kappich, Azar Mortazavi, Clara Ehrenwerth, Eva-Lena Lörzer, Fabian Hischmann, Florian Balle, Hieu Hoang Duc, Janna Schielke, Julia Schulz, Max Balzer, Phillip Hartwig, Sebastian Albrecht, Sebastian Polmans, Susanne Kruse. Moderiert von Jule D. Körber und Lino Wirag.

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