Montag, 3. Dezember 2007

FREAKSHOW

Friedrich berührt den Metallrahmen des Zeitungsständers, der gibt mit einer leichten Drehung nach. Er zieht die Hand zurück.
Ein Kiosk. Friedrich hat Hunger. Eigentlich zum ersten Mal, denn in der Psychiatrie war Hunger anders. Kein zwingendes Problem, nie dieser Schmerz. Friedrich findet, wie ein Loch im Bauch fühlt er sich an, Hunger. Er sieht sich unschlüssig um.
Menschen stehen auf dem Gehsteig. Warten. Dann bleiben Autos stehen – das Motorengeräusch wird ruhiger, und Menschen gehen gleichzeitig über die Straße. Dazu die roten und grünen Lichter. Ein Spiel.
Kann ich Ihnen weiterhelfen?
Friedrich dreht sich um. Eine Frau blickt ihm durch das quadratische Verkaufsfenster entgegen – einen Moment weiten sich ihre Augen, dann senkt sie den Blick.
Friedrich geht zögerlich näher. Die Frau hat ein rundes Gesicht und kurze graue Haare; ihre Finger drehen unablässig einen Kugelschreiber. Friedrich sieht Preisschilder und mit einem Mal sind Striche, Striche und Striche; rotleuchtende Striche überall.
Also, suchen Sie etwas bestimmtes?
Suchen? – Striche, genau eintausenddreihundertundzwölf Striche, und Friedrich lässt den Kopf sinken. Er denkt an das Brummen in der weißen Röhre.
Nein – Suchen? – Ich wollte – fragen: Essen? – Krieg ich hier etwas zu – Essen?
Klar! Alles mögliche... Sie sehen’s ja selbst. Also, ich hab zum Beispiel grad frische Brötchen...
Brötchen – sind lecker. Ich will drei – Brötchen.
Okay, drei Brötchen. Die Frau legt den Kugelschreiber beiseite, greift hinter sich und steckt drei Brötchen in eine Papiertüte. Sie lächelt, doch Friedrich starrt noch immer auf den Asphalt. Seine Kopfhaut durchzogen von einer tiefen Narbe. Ein kahler Streifen, wie ein viel zu breiter Scheitel. Es dauert einen Moment, dann sagt die Frau: Das macht dann einen Euro fünf.
Was – einen – was?
Die Frau sagt betont deutlich: Einen Euro und fünf Cent. Wenn Sie kein Geld haben, dann kann ich Ihnen leider auch nichts geben. Ich meine, wenn ich hier jedem der bettelt... Das geht nicht.
Was? – Ich weiß nicht – aber ich hab doch – Hunger!
Friedrich beginnt leise zu weinen, mit hängendem Kopf, bewegungslos.
Jetzt hören Sie auf. Und gehen Sie bitte! Sie müssen das...
Friedrich bleibt stehen: Aber ich hab doch – Hunger...
Gut, schon in Ordnung. Dann nehmen Sie eben die Brötchen, aber verschwinden Sie jetzt! Vertreiben ja die Kundschaft...
Friedrich hebt den Kopf. Seine Augen noch nass, glänzen: Danke sehr – Frau...
Bitte sehr!
Danke sehr – Frau... Wie heißt du – Frau? – Dann sag ich’s richtig – Danke sehr Frau...
Engelot.
Danke – sehr Frau – Engel – lot. Friedrich ist zufrieden und will die Brötchentüte nehmen. Frau Engelot seufzt und schüttelt den Kopf. Dann greift sie hinter sich und legt noch ein Fünfer-Pack Bifi auf den Tresen. – Und jetzt sieh zu, dass du Land gewinnst.
Friedrich versteht sie wieder nicht, aber er geht.

...

Das Loch hat einen ganz unangenehmen Geruch, genauer gesagt ist er nicht unangenehm in dem Sinne, dass er schlecht riecht, er ist unangenehm, in höchstem Maße unangenehm, da er schlichtweg unbekannt ist. Das Schlimme ist, er ist ganz sicher unbekannt! Manchmal mag man ja bei dem ein oder anderen Geruch ins Grübeln kommen und sich fragen, wo man so etwas wohl schon einmal gerochen hat, kann sich nicht recht entsinnen, bleibt dennoch der Meinung jenen Geruch zu kennen. Bei dem Loch ist es anders. Hier ist ganz sicher, dass man noch nie (noch niemals!) etwas Vergleichbares gerochen hatte. Niemand!

Pina hat Schulschluss, schlendert die Straßen entlang, Steinstraße, Parkallee, Hollweg. Loch. Nur mal gucken. Noch 20 Meter, 15, zehn. Sie atmet. Aus erst. Aus. Dann natürlich ein. Muss sie ja jetzt.

Die Luft samt dieser anormal riechenden Moleküle, vollkommen unirdische Moleküle, die vielleicht vergessen wurden, Unmoleküle gelangen in ihre Nasenhöhle, krabbeln einfach hinein, weiter, weiter:

Essig, beißend, Minze, grün wird zu lila, faules, eckiges kämpft mit rundem, rot-weiß, weiß-rot, Blumenduft, nein Benzin, Hitze, blaublau, Elektronik, Zimt, gelb oder gold, Schweiß, Schaum, Kreise drehend, dschungelförmige Punkte, vorne Säuren, Strom, wann Plastikhagel, schwarz wie weiß, Gleißen, kreisen, fallen, steigen, Sucht, schreiendes Orange, Unform, brüll, Flaum, Schaum, Flaum, nichts, Wolke, dann Messer, Maschinen, gelbes Kreischen, künstliche Berge Berge über, Montag?, Abschaum, spitze Kälte, Schwall schallt, zuhin rück hirn hin ruck, lila, blau, lila orange oran gel ge grü bl au schw graro nis ch ts all brabla weschwweiarzeiß zßzßz ßzzß ß z …

Eingemachte Apfelsinenspatzen

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Den nächsten Augenblick war sie ihm nach in das Loch hineingesprungen, ohne zu bedenken, wie in aller Welt sie wieder herauskommen könnte.
Der Eingang zum Kaninchenbau lief erst geradeaus, wie ein Tunnel, und ging dann plötzlich abwärts; ehe Alice noch den Gedanken fassen konnte sich schnell festzuhalten, fühlte sie schon, daß sie fiel, wie es schien, in einen tiefen, tiefen Brunnen.
Entweder mußte der Brunnen sehr tief sein, oder sie fiel sehr langsam; denn sie hatte Zeit genug, sich beim Fallen umzusehen und sich zu wundern, was nun wohl geschehen würde. Zuerst versuchte sie hinunter zu sehen, um zu wissen wohin sie käme, aber es war zu dunkel etwas zu erkennen.
Da besah sie die Wände des Brunnens und bemerkte, daß sie mit Küchenschränken und Bücherbrettern bedeckt waren; hier und da erblickte sie Landkarten und Bilder, an Haken aufgehängt.
Sie nahm im Vorbeifallen von einem der Bretter ein Töpfchen mit der Aufschrift: "Eingemachte Apfelsinen", aber zu ihrem großen Verdruß war es leer. Sie wollte es nicht fallen lassen, aus Furcht Jemand unter sich zu tödten; und es gelang ihr, es in einen andern Schrank, an dem sie vorbeikam, zu schieben.
(…)
"Hinunter, hinunter, hinunter! Wollte denn der Fall nie endigen? "Wie viele Meilen ich wohl jetzt gefallen bin!" sagte sie laut. "Ich muß ungefähr am Mittelpunkt der Erde sein. Laß sehen: das wären achthundert und funfzig Meilen, glaube ich -; " (denn ihr müßt wissen, Alice hatte dergleichen in der Schule gelernt, und obgleich dies keine sehr gute Gelegenheit war, ihre Kenntnisse zu zeigen, da Niemand zum Zuhören da war, so übte sie es sich doch dabei ein.) -; "ja, das ist ungefähr die Entfernung; aber zu welchem Länge- und Breitegrade ich wohl gekommen sein mag?" (Alice hatte nicht den geringsten Begriff, was weder Längegrad noch Breitegrad war; doch klangen ihr die Worte großartig und nett zu sagen.

Bald fing sie wieder an. "Ob ich wohl ganz durch die Erde fallen werde! Wie komisch das sein wird, bei den Leuten heraus zu kommen, die auf dem Kopf gehen! die Antipathien, glaube ich." (Diesmal war es ihr ganz lieb, daß Niemand zuhörte, denn das Wort klang ihr gar nicht recht.) "Aber natürlich werde ich sie fragen müssen, wie das Land heißt. Bitte, liebe Dame, ist dies Neu-Seeland oder Australien?" (Und sie versuchte dabei zu knixen, -; denkt doch, knixen, wenn man durch die Luft fällt! Könntet ihr das fertig kriegen?) "Aber sie werden mich für ein unwissendes kleines Mädchen halten, wenn ich frage! Nein, es geht nicht an zu fragen; vielleicht sehe ich es irgendwo angeschrieben."

Hinunter, hinunter, hinunter! Sie konnte nichts weiter thun, also fing Alice bald wieder zu sprechen an. "Dinah wird mich gewiß heut Abend recht suchen!" (Dinah war die Katze.) "Ich hoffe, sie werden ihren Napf Milch zur Teestunde nicht vergessen. Dinah! Miez!
Ich wollte, du wärest hier unten bei mir. Mir ist nur bange, es giebt keine Mäuse in der Luft; aber du könntest einen Spatzen fangen; die wird es hier in der Luft wohl geben, glaubst du nicht? Und Katzen fressen doch Spatzen?" Hier wurde Alice etwas schläfrig und redete halb im Traum fort. "Fressen Katzen gern Spatzen? Fressen Katzen gern Spatzen? Fessen Spatzen gern Katzen?"
Und da ihr Niemand zu antworten brauchte, so kam es gar nicht darauf an, wie sie die Frage stellte. Sie fühlte, daß sie einschlief und hatte eben angefangen zu träumen, sie gehe Hand in Hand mit Dinah spazieren, und frage sie ganz ernsthaft: "Nun, Dinah, sage die Wahrheit, hast du je einen Spatzen gefressen?" da mit einem Male, plump! plump! kam sie auf einen Haufen trocknes Laub und Reisig zu liegen, -; und der Fall war aus.7UCAXFBKGQCA7222YOCA19O19DCALXMA0LCANOJ4HFCAGWHF47CAISVGN5CA2F2W72CALGZD25CAZZC4LICA0VZ84KCAFM6FDOCADQICWRCATBQHCNCAGF79RHCAKXDXZFCAH543QJCAPCI8E3CA30RX58
(…)


(aus: Alice im Wunderland, Lewis Carroll)

Was hier passiert:

Anfang. Ende. ist ein virtuelles Romanprojekt des Studiengangs Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus: dreizehn Personen, eine Katze, ein Hase und eine fremde Macht. Die Zeichen stehen auf Sturm. In Tagen wird es vorüber sein.

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Impressum:

Aline Kappich, Azar Mortazavi, Clara Ehrenwerth, Eva-Lena Lörzer, Fabian Hischmann, Florian Balle, Hieu Hoang Duc, Janna Schielke, Julia Schulz, Max Balzer, Phillip Hartwig, Sebastian Albrecht, Sebastian Polmans, Susanne Kruse. Moderiert von Jule D. Körber und Lino Wirag.

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