Mittwoch, 5. Dezember 2007

***Grenze *Stop* Grenze***

Niemand hatte es ihm gesagt. Braunscheid fuhr an diesem Tag die 4, von Wald zu Wald, von West nach Ost, einmal quer durch die ganze Stadt. 5 Uhr 12, die erste Fahrt des Tages, er lag gut in der Zeit, drei Stationen vor der Endhaltestelle kein einziger Fahrgast mehr: Wer wollte schon morgens um fünf in den Wald, Braunscheid drückte aufs Gas, als er sah, dass auch an der vorletzten Haltestelle niemand stand. Und hinter der nächsten Ecke die Rehfarm Mauer
?

Braunscheid legte die fünfte Vollbremsung seines Lebens hin (die anderen Male waren Kinder der Grund), nur wenige Zentimeter trennten ihn noch vom endlosen Grau und den zwei Gewehrläufen, die sich ihm von links und rechts näherten.

Im Deutschen ist übrigens Lebensgefahr und Todesgefahr dasselbe. Das gibt zu denken. Denn das hat ja zu bedeuten, daß zum Beispiel Gewöhnungsgefahr dasselbe wäre wie Entwöhnungsgefahr und Einsturzgefahr dasselbe wie Stehenbleibgefahr. Leider entgehen dieser Einsturzgefahr vor allem architektonische Monstrositäten, während der Lebensgefahr, genaugenommen, nur eine Totgeburt entgeht. (Wolfgang Hildesheimer, "Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge")

Adam

Es klopfte schon einige Zeit. Es war Teil von seinem Schlaf. Doch es war zu monoton, zu lange, Adam öffnete die Augen. Es klopfte immer noch. Die Wand. Braune Federmatten, sie knarrten als er sich aufrichtete. Im Wohnwagen hatte er sich vorige Nacht einsam gefühlt. Reingeschlichen, kam eine lange Eisenbahnfahrt im Fernsehen. Bis er einschlief. Adam klopfte zurück, zweimal, kurz. Das Klopfen hörte auf und setzte dann wieder ein. Es war das Zimmer seiner Brüder Jakob und Johannes. Schwer ging das Holz über das grüne Plastik. Nur Jakob war da. Das dumpfe Poltern der massiven Wand tat Adam in den Ohren weh. Jakob, sagte Adam, warum tust du das nur, das tut doch weh. Jakob antwortete mit, Bam, Bam, Bam, ich bin härter wie Stein, ich reiß das Haus hier ein. Aber Jakob, sagte Adam, wo willst du dann wohnen? Im Plingklong, sagte Jakob, im Plingklong bei den Lutscherstangen. Adam hielt ihn auf. Der kleine sah ihn nicht richtig an. Dann musste er sich übergeben. Er war so erschöpft, dass er sich schon bald schlafen legte. Adam ging auf einen Spaziergang um Wurzeln zu sammeln. Um zu den besten Wurzeln zu kommen, musste er ein gutes Stück gehen. Er war neugierig und beschloss in den Ortskern zu gehen. Grass-Wasser-Sand-Gemisch, zwischen den geriffelten, weißen Plastik Kästen entlang, auf die Straße.
Überall Autos, Menschen, tummelten sich. Adam war lange nicht der einzige gewesen, der sich das mal anschauen wollte. Adam konnte Häuser sehen, die er so noch nie sehen konnte. Es wurde irgendwie versucht etwas abzuschirmen. Oder auch nichts abzuschirmen. Als Adam das gewaltige Nichts vor sich sah, dachte er: „…der wird von dem Wein des Zornes Gottes trinken, der unvermischt eingeschenkt ist in den Kelch seines Zorns, …" (Offenbarung 14, 10)
Adam nahm sich vor einmal um das Loch herum zu laufen. Einmal einfangen, was hier passiert war. Irgendwann sah er eine junge Frau. Sie stand vor einem Geschäft herum, ganz allein. Adam dachte sich, sie ist nicht sehr viel jünger als ich, aber ein bisschen schon. Sie schaute um sich, beobachtete sie keiner? Adam kam näher. Sie nahm etwas Boden auf. Eine Tasche. Jetzt sah er es erst. Das Schaufenster war auch weg. Zerschlagen? Dann sah sie Adam an. Sie lächelte und zuckte mit den Schultern. Hey du, sagte sie, das Pony mit einer lockeren Kopfbewegung zur Seite geworfen, Lust auf ne Partie Badminton? Adam dachte daran, er hatte es schon einmal gespielt, mit Johannes, er konnte es nicht gut, Johannes, er sah schlecht, schlechte Tiefenwahrnehmung, manchmal landete der Ball auf seiner Stirn. Sie reichte ihm das dünne Metalgestell. Die kleinen gesponnenen Fädchen machten leise kurz andauernd klingende Geräusche als er mit den Fingern darüber kratzte. Auf einige Meter entfernt schlug sie den Ball zu ihm herüber. Es funktionierte, sie spielten. Viele Leute redeten, starrten ins Loch, aßen Frühstück. Lass uns da über die Ecke vom Loch spielen, sagte sie und lief dorthin. Adam folgte und sie spielten weiter. Der Gummipunkt mit den Plastikfedern segelte in verschiedensten Bögen über das dunkle tiefe Loch. Aus dem Augenwinkel sah Adam wie sich etwas durch die Luft dem Ball näherte. Schnell. Eine Katze. Die beiden Spielenden liefen näher ans Loch und sahen der Katze hinter her, wie sie immer tiefer und tiefer im Dunkel verschwand bis sie nicht mehr zu sehen war. Adam kannte die Katze, sie hatte ein schönes Fell.

FREAKSHOW

Kurz nachdem Friedrich mit der Brötchentüte verschwunden ist, hat Frau Engelot diese Meldung im Radio gehört: In der geschlossenen Abteilung des Psychiatrischen-Instituts wird seit dem Morgen ein junger Mann vermisst. Er ist mittelgroß, trägt helle Turnschuhe, Jeans und eine gelbe Jacke; außerdem wahrscheinlich eine Kopfbedeckung. Er ist verwirrt und möglicherweise nicht in der Lage sich zu orientieren. Hinweise bitte an die nächste Polizeidienststelle.
Eigentlich ist es aber anders gewesen: Kurz nachdem Friedrich mit der Brötchentüte verschwunden ist, hat Frau Engelot der Meldung zugehört. Wir wissen nämlich, dass sie schon zuvor dreimal – um zwölf, um halb eins und um eins – die Meldung gehört hat. Nur hat sie das schabende Hintergrundgeräusch des Radios nicht in Sprache übersetzt. Eben nichts verstanden.
Jetzt versteht Frau Engelot und greift zum Telefon. Sie tippt: eins, eins, dann zögert sie - den Zeigefinger auf der null. Nächste Polizeidienststelle, hat der Nachrichtensprecher gesagt. Nächste Polizeidienststelle? Sie überlegt in den gelben Seiten nachzuschauen, unter P, wie Polizei. Sie legt den Hörer zurück in die Plastikmulde – kein Freizeichen mehr.
Sie denkt: Woher weiß ich überhaupt, dass die gerade den suchen? Natürlich war der verrückt, aber Verrückte gibt es viele, ohne dass sie aus irgendeiner Anstalt ausgebrochen sind. Um die alle einzufangen, müsste wahrscheinlich gleich eine Mauer um die ganze Stadt...
Frau Engelot bleibt in diesem Gedankengang stecken und wirft einen Blick nach draußen. Eine alte Frau putzt Fenster, im Erdgeschoss des Wohnhauses auf der anderen Straßenseite. Sie kennt das Quietschen, das der Lederlappen auf der feuchten Scheibe macht. Geräusch von Sauberkeit. Dabei ist der Himmel grau. Es riecht nach Regen. Eigentlich keine Zeit zum Fensterputzen, denkt sie, und dann: Was hat das Radio genau gesagt? Gelbe Jacke. Blaue Jeans. Blaue Jeans hat ja jeder. Und gelbe Jacke?
Frau Engelot kann sich einfach nicht daran erinnern, was der junge Mann für eine Jacke getragen hat. Sie sieht nur den gesenkten Kopf. Kopfhaut mit tiefem Riss. Sonst nichts.
Außerdem Kopfbedeckung... Etwas von Kopfbedeckung hat das Radio noch gesagt. Wahrscheinlich Mütze, denkt sie und grinst. Nein. Hast mal wieder aus einem Schmetterling einen Elefanten gemacht. Nein, nein... Eine Mütze hat der sicher keine aufgehabt.

Was hier passiert:

Anfang. Ende. ist ein virtuelles Romanprojekt des Studiengangs Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus: dreizehn Personen, eine Katze, ein Hase und eine fremde Macht. Die Zeichen stehen auf Sturm. In Tagen wird es vorüber sein.

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Aline Kappich, Azar Mortazavi, Clara Ehrenwerth, Eva-Lena Lörzer, Fabian Hischmann, Florian Balle, Hieu Hoang Duc, Janna Schielke, Julia Schulz, Max Balzer, Phillip Hartwig, Sebastian Albrecht, Sebastian Polmans, Susanne Kruse. Moderiert von Jule D. Körber und Lino Wirag.

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