Montag, 19. November 2007

Marie hätte das so nicht erwartet.

Als sie an diesem Tag durch den Caulfield-Park wandert, sieht sie ein Mäedchen am Boden sitzen. Ein schönes Mädchen, das sich im Fluss die Hände wäscht.
Marie bleibt stehen, "was machst du da?"
Das Mädchen blickt auf, "ich erinnere mich an früher, hast du vielleicht Zigaretten?"
Marie reicht ihr die Packung, sagt warnend, dass die meisten Menschen blaue Gauloises zu stark finden. Das Mädchen mit dem nassen Ärmel winkt ab: „Die meisten Menschen finden auch Nick Caves Stimme zu theatralisch.“ Ach, denkt Marie, theatralisch ist das falsche Wort, Scheiße würde es besser treffen. Dann stehen sie nebeneinander und fangen an zu spucken.

...

Pina presst den Daumen auf die Klingel, bis er weiß wird. Mihir spricht in die Gegensprechanlage, „Hallo“, dann surrt die Tür. 57 Stufen, Mihir in einem langen bunten Gewand, er umarmt Pina. „Hab noch Wackelpudding“, sagt er zwinkernd, hat sehr viele Falten um die Augen dabei. Dann sitzen sie wie immer in der Hocke auf dem Boden, erzählen und erzählen. Mihir erzählt vom Kastensystem in Indien, von den heiligen Kühen, die einfach so auf der Straße laufen und alle müssen um sie herum fahren. Es gibt sogar Menschen, die die verletzten Kühe auf Lastern zum Tierarzt fahren. „Was gibt’s bei dir Neues?“ Pina erzählt vom Sonntag, käsefarben, Omabesuchstag. „Sie sagt immer Lina zu mir, kapiert die das denn nicht?“ Mihir lacht wunderbar wellenförmig: „Tja, alte Leute...“, sagt er und streicht sich durch sein weißes Haar. „Ich muss noch einkaufen, kommst du mit?“ Draußen ist es mittlerweile dunkel, hat zu nieseln angefangen, der kleine Supermarkt hellerleuchtet mit einem merkwürdigen Geruch nach Bananen und Spülmittel. „Kannst mir schon mal Reis holen." Pina saust durch das Labyrinth aus bunten Dosen und Schachteln: Müslipackungen, Klopapier, Shampoo, Oliven, Saft, Salz, und dann: Eine Frau, Mitte 30 vielleicht, lässt eine Tube Zahnpasta in ihre Manteltasche gleiten. „Hey“, entfährt es Pina, „das ist Betrug!“ Die Frau dreht sich um, lacht: „Betrug, Betrug, das ist doch nur gemopst, GEMOPST sieben Buchstaben, verstehst du?“ „Sie dürfen das nicht“, knurrt Pina, die Luft ist mittlerweile Giftgrün geworden, schrecklich eckig. „Das geht dich einen Scheißdreck an, was ich darf und was nicht“, sagt die Frau und verschwindet mit ein paar schnellen Schritten aus dem Laden.

...

Bog, bog, ruft Mladenka, er sagt, was und Ziege. Mladenka versteht ihn, sie spricht seine Sprache, er aber nicht ihre (und das gefällt ihr). Sie sagt nichts, denkt an Bocksgesang und schnalzt mit der Zunge, die sie sich verbrüht hat, am heißen Schnaps von heute morgen, daher ist es ein Schnalzen, das so leise ist, dass es es im Mundraum gar nicht erst zu einem Geräusch schafft. Der Bus fährt an, Stöße kommen auf, und Mladenka muss sich mit der Linken, in der Rechten hält sie einen Schuhkarton, an einem jungen Mädchen festhalten, das ein Magazin in der Hand hält - eine nackte Frau mit langen schwarzen Haaren, die ihr aus Mund und Kopf wachsen, Schultern und Brüste bedecken. Kassandra, steht ganz oben in schwarzen Lettern über dem Kopf der Frau. Das sieht Mladenka und denkt, während sie sich auf einen Fensterplatz setzt, den Schuhkarton auf dem Schoß, an den jungen Mann, mit dem sie sich vor ein paar Tagen auf dem Marktplatz unterhalten hat, in seiner Sprache, nicht in ihrer. Er sagte, hallo, junge Frau, ich heiße wie mein Name und bin frei, erinnert sich Mladenka und schaut aus dem Fenster auf die Straße ohne zu sehen. Heißen sie auch wie ihr Name, fragte der junge Mann, und Mladenka weiß, dass sie da lachte als er das fragte, weshalb sie auch jetzt lacht. Sie sieht ihr Lachen sich im Fenster spiegeln, denkt dann weiter an das Gespräch mit dem Mann. Ja, sagte Mladenka, und so, ich heiße auch so. Daraufhin bestellte der junge Mann eine Rosinenschnecke und Mladenka bat den Bäcker um Brotreste für ihre Tauben. Der junge Mann sagte, Taub… Der Bus hält. Ein Mädchen mit Augen wie Streichhölzer setzt sich neben Mladenka.

Widerstand

Zurück nach dem Zurück, Georg bleibt im Bett, allein, wie immer. Als sie geht sagt er: "Du bist wie ein Kolibri, immer in Bewegung. Hast du gewusst, dass die kleinen Dinger im Fliegen schlafen?"
Sie tapst die Treppen runter nach draußen, die Luft macht sie wach, die Sonne scheint, lässt die kleine Narbe in ihrem Gesicht aufblitzen und sie denkt an ihr erstes Fahrrad und den Tag, an dem die Stützräder versagten.
Auf dem Brückengeländer glitzert der Restregen, bis ihr Jackenärmel sich seiner annimmt. Heute schwimmen keine Enten unter ihr hindurch, Spucken ohne Ziel.
Im Central Park gibt es auch Enten, dass weiß sie von Holden Caulfield.
Irgendwann, sie hat keine Vorstellung davon, wie viele Liter Wasser zuvor bereits unter ihren baumelnden Füßen weggeflossen sind, kniet sie im nassen Gras am Bachufer und hält ihre Hand, die Finger aneinander gedrückt, ins Wasser und spürt den Widerstand solange, bis sie die Finger spreizt und das Wasser angenehm hindurchstreicht.
"Was machst du da?" Das Mädchen auf der Brücke, nicht Vanessa Paradis, sieht nett aus, und nach guter Musik. "Ich erinnere mich an früher. Hast du vielleicht Zigaretten?"
Wenig später dann, nebeneinander, zwei Mädchen.
"Die meisten Leute finden blaue Gauloises zu stark."
"Die meisten Leute finden Nick Caves Stimme zu theatralisch.
Enten landen auf dem Bach, nur ein Erpel ist darunter.
"Die meisten Leute haben keine Ahnung."
"Ich kenne ein Spiel", sagt das Mädchen mit dem nassen Ärmel.

FREAKSHOW

Die Redakteurin steht am geöffneten Fenster und raucht. Dann lässt sie die Zigarette fallen, hinab auf den Parkplatz - ein Vorgesetzter tritt ein.
Haben Sie geraucht? Sie wissen doch, dass hier Nichtraucher ist!
Sie wedelt nicht mit der Hand, um den Rauch zu vertreiben. Eine Geste.
Der Vorgesetzte lächelt.
Mein Gott! Manchmal komm ich mir vor, wie ein Lehrer auf Klassenfahrt. Na ja... Gleich können Sie so viel rauchen, wie sie wollen. Sie haben einen Auftrag! Aus der Psychiatrischen ist mal wieder ein Irrer abgehauen. Sie fahren runter und sammeln ein paar O-Töne. Ich will den behandelnden Arzt und vor allem vergessen Sie die Krankenschwestern nicht. Die reden gerne...
Die Redakteurin nickt. Der Vorgesetzte lässt seinen Blick an ihr herabstreifen, während er die Tür schließt. Die Redakteurin sieht auf ihre kleine silberne Armbanduhr: nicht mal neun. Sie steckt sich eine Zigarette an.

Sonntag, 18. November 2007

Manchmal lässt sich nichts von den Gehsteigen lesen.

„Warum wundern? Hier ist alles normal. Hier gibt es nichts Wunderbares mehr. Gewöhnlichkeit essen Wunderbar auf. Als ich mich noch gewundert habe, war die Zeit noch alt.“ Die Worte liegen wie Spucke auf dem Gehsteig und werden achtlos zertrampelt, als er sich fragt, wie es hier still sein kann. Trotz dieser alles umspülenden Lärmwelle war es hier still. Manchmal konnte die Stille beißen. Aber niemand wagte es einen Mucks von sich zu geben. Wenn er gebissen wurde. Und plötzlich, da war es wieder. Das Geräusch. Sein Herz. Vielleicht konnte es sein Herz sein. Gestern ist es doch der Zeiger gewesen. Obwohl er sich so sicher war. Jede Minute fällt einer aus dem Fenster. Am Morgen haben sie schon alles weggeräumt. Und fast keiner weiß davon, bis er selber fällt. Und manchmal hat man gedacht, da drüben lebt einer, der ist so ähnlich wie ich.
Wieder sitzt er vor den Zahlen. Aber beachtet sie nicht. Er will es verhindern. Er will es verhindern, dass Zahlen immer Glück bedeuten. Warum sind denn alle Sorgen weg, wenn sechs Zahlen richtig sind. Wie kann es sein, dass das Wundern hier mit den Dinosauriern aufgehört hat, wenn er jeden Tag nichts davon glauben mag, was man hier sehen kann. „Du bist meine Beobachtung Nr. 3750“, hatte gestern Jemand gesagt. Zu ihm. Und er wusste nicht, ob der Jemand das Wunderhafte zählt oder die sich Wundernden. Er wusste es nicht und konnte diesem Mann nichts entgegnen. Jetzt aber. Obwohl schon alles zertrampelt ist.

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Persönliches Tagebuch: Wegner

Eintrag Nr. 1*

War in Discothek sehr groß beißende Farben unangenehme Musik mit elektronischen Instrumenten und einem Bass schmerzend im Bauchbereich. Darf Dr. Fleischer nichts erzählen. Zuerst ruhiger: junge Menschen tanzend in kleinen Kreisen, damit sie sich betrachten konnten (Vermutung). Doch dann ein Lied, dass alle mochten (Vermutung) alles löste sich Geschrei wilderes Tanzen keine Kreise mehr Masse alle sind Masse manche Arm in Arm spüre Ekel vor den schwitzigen Körpern atme auf, als das Lied vorbei ist.
Ein Schlitzauge, weiblich, sehr jung (Vermutung, bei solchen schwer zu sagen) bewegt sich auf mich zu, verärgerter Blick. Denkt, ich wäre hier um junge Mädchen zu verführen (Vermutung). Fragt mich, was ich hier zu suchen habe. Sage, ich sei aufgrund der Musik hier, weiß, dass sie mir nicht glaubt. Welche Musik ich denn höre. Alles. Miserable Antwort. Alles bedeutet Nichts. Laut alternativen Kultur (s. Studienmappe Nr.12) kein Interesse an Musik. Sie dreht sich angewidert fort. Bin auch angewidert von dem Sclitzauge. Huste viel, muss Discothek verlassen. Habe mich eingenässt. Vermisse meine Prostata.

*Mir bleibt wenig Zeit. Führe ab sofort persönliches Tagebuch, wenn keine Zeit für ordentliche Notizen. Mir bleibt wenig Zeit.

Samstag, 17. November 2007

120 km/h.Pause.120km/h.

Einundsechzig, zweiundsechzig, dreiundsechzig - schweres Ausatmen. Etwas mehr als eine Minute, schlechte Lunge, schlechte Idee, schlechtes Wetter.
Der Regen donnert laut aus der Dämmerung, gegen die Windschutzscheibe des alten, weißen Saab, dessen linkes Rücklicht nicht funktioniert, Patric lenkt, überholt, raucht; Marlene sitzt auf dem Beifahrersitz und starrt Risse in die Autobahn. Sie blinzelt erst wieder im Moment unter der Brücke, das Regenschlagzeug pausiert, Stille.
Die Raststätte, Patric auf der Toilette, Marlene im Telefonhäuschen, spricht in die Muschel: "Georg, regnet es? Ich komme." Später, nach dem Schreien, dem in die Lufttreten, und dem Türenzuschlagen verschwindet das Auto, mit nur einem leuchtenden Rücklicht, Richtung Kiel, das Mädchen fährt in einem alten Golf per Anhalter zurück. Zurück, vom Regen in den Regen.

Beobachtung Nr. 3750

Kühle Wege zwischenverkalkten Altbauten und schlampigen Wohnklos fädeln sich durch einen ermüdenden Tag. Fritze Wegner ist auf der Pirsch. Der Park, die Universität, die Cafes der Innenstadt und diverse Schulen liegen bereits hinter ihm, doch sein ungeduldiger Füller musste bisher in der Brusttasche bleiben. "Die Stadt ist kurz vorm Abnippeln", denkt Fritze Wegner. Und er scheint recht zu haben. Mit dem Morgengrauen scheinen die jungen Leute, die sich sonst an den üblichen Plätzen tummeln verschwunden, einfach weg. "Wie von einem Loch verschluckt" Fritze Wegner fühlt sich wie ein Angler bei Ebbe, wie ein Soldat zu Friedenszeiten und setzt sich für ein Päuschen auf eine Bank. Es ist die selbe Bank, von wo aus er vor wenigen Tagen dem regen Treiben der Punkelfe zugesehen hat. Wie gehetzt er da gewesen ist, es eigentlich noch ist. Der Schützengraben ist nunmahl kein Wellness-Hotel. "Wir haben keinen Sonntag, es ist nicht zu kalt und im Fernsehen läuft nichts Besonderes", vergewissert sich Fritze Wegner. Wo sind die Jungen also hin ? Einige ältere Leute schlurfen über den Marktplatz, eine Frau (ca. 35 Jahre, edler gekleidet, schlank) mit rosa Kinderwagen rollt zügig an ihnen vorbei - nichts, was eine Notiz oder gar eine Beobachtung wert wäre. So schnell ist die Mutter dem Abendessen entgegengehetzt, dass sie ein weißes Plüschtier verloren hat. Verlassen liegt es neben dem Mülleimer und mümmelt vor sich hin. Mümmelt? Fritze Wegner staunt. Das Plüschtier bewegt sich, ist gar kein Plüschtier, ist ein echtes Häschen, kommt auf ihn zu und ist auch gar kein Häschen, sondern ein Kaninchen, was Fritze Wegner sofort an den kürzeren Hinterläufen und Löffeln erkennt. Das lebendige, weiße Kaninchen schlägt einen Haken, schnüffelt an der Blumenrabatte und tollt zwischen den leeren Fahrradständern herum. "Es muss ein ganz Junges sein", denkt Fritze Wegner und zückt den ungeduldigen Füller. "Du bist mein meine Beobachtung Nr. 3750", erklärt er dem Kaninchen (weiß, sehr jung, aufgeweckt), als es noch einmal vorbei gehoppelt kommt. Das mümmelt nur ein bisschen, aber Fritze Wegner versteht, was es meint.

Freitag, 16. November 2007

Beobachtung Nr. 3749

Punk: meist bunte Haare und rissige Kleidung, manchmal Piercings (s. S.67); laute, schnelle, anspruchslose Rockmusik (s.S. 306); rüdes Benehmen, Alkoholkonsum; eigentlich seit den achtziger Jahren untergegangen (siehe auch Retro, S. 452) Das schien zutreffend zu sein, Fritze Wegner konnte getrost hinter „sehr jung (unter 16), weiblich, in der Gruppe“ das Charakteristikum „Punk“ setzen. Wobei ihn dies zierliche Wesen in dem kurzen Faltenrock und den dicken Stiefeln eher an eine Dryade, oder an eine Elfe erinnerte, auch wenn diese wohl kaum auf dem Marktplatz Dosenbier getrunken hätte. Doch die Kleine war in ihrer Bewegung und Stimmfarbe so glockenklar wie es sonst nur in den alten Mythen beschrieben wird und heute von schwarzem Kajal übermalt wird. Die Punkelfe war mit Abstand das interessanteste Objekt, denn sie flitzte von einem zum nächsten, lachte und ließ sich bewundern, während die meisten der anderen Objekte lethargisch die angenehme Luft mit Blicken durchlöcherten und ihre Faulheit zur Schau stellten. Schon eine ganze Weile sah Fritze Wegner, aus gebührenden Abstand versteht sich, der Punkelfe beim „saufen“ (S. 45) und „sich unterhalten“ (S.77) zu und hoffte auf ein Ereignis, eine Kuriosität, etwas, dass die Punkelfe zu besonderem oder auffälligem Verhalten veranlassen würde. Nichts, seit Stunden. So erhob er sich langsam von der unbequemen Holzbank und schritt auf seinen Stock gestützt Richtung Bäckerei, die ohnehin um neunzehn Uhr, das heißt in sieben Minuten und zweiunddreißig Sekunden, schloss. Als er sie erreichte war bereits Ladenschluss, doch die Verkäuferin (ca. 40, pummelig) wartete freundlicherweise. „Tut mir leid, die alten Knochen machen’s nicht mehr so“, entschuldigte er sich, worauf sie nur lachte: „Wir sind doch alle nicht mehr die Jüngsten!“ Und damit hatte sie recht. Wer ist heute schon noch jung?, fragte sich Fritze Wegner, als er seine Mehrkornbrötchen mit Schmalz bestrich und wusste genau wie absurd, wenn nicht gar anmaßend diese Frage war. War er doch derjenige, der am allerwenigsten wusste, was „jung sein“ überhaupt bedeutete. Diese zermürbenden Gedanken vertreibend, verließ er die kleine Küche mit Klappsofa, die er auch zum schlafen nutzte und betrat den wichtigen Teil seines Reihenhauses. Das Medienzimmer mit Computer, Fernseher, Playstation und ähnlichem Schnickschnack ließ er hinter sich, genau wie die Bibliothek, in der sich Notizordner und Zeitschriften säuberlich zwischen den Regalbrettern aufstellten, und ging stattdessen zum heiligsten Ort von allen, dem Kabinett. Er heftete das Foto der Punkelfe, nebst Kurzbeschreibung an die Wand zwischen die weinenden Mädchen bei dem Boygroup (S. 656)-Konzert, den Studenten mit dem Joint (S. 3) und den drei pummeligen Jungs, die versuchten ihr Dosenbier durch die Nasenlöcher zu trinken. Mit ein wenig Stolz bemerkte Fritze Wegner, dass nicht mehr für viele Fotos und Kurzbeschreibungen Platz sein würde in seinem Kabinett, was übrigens entgegen seiner Notizen keinerlei Ordnung besaß. Geschminkte Mädchen mit Schulranzen, eine Pfadfindergruppe, junge Männer mit kahl rasierten Schädeln, Oberschülerinnen in einem Kaufhaus, ein Mädchen mit langen Haaren mit einem dicken Buch, ein ernster Junge mit Zeitung, eine Musikerin in der Fußgängerzone, Massen von jungen Menschen in einer Großraumdisko, schwarze Gestalten unter einem riesigen Sonnenschirm, gelangweilte Jugendliche an einer Straßenecke, Fritze Wegner auf einem Stuhl sitzend belächelte all seine Schätze, die er, jeden einzelnen, liebte, aber die erst im Gesamtbild wirklichen Wert hatten. Denn das Gesamtbild, das Gesamtbild, das Gesamtbild könnte vielleicht irgendwann eine Antwort geben, die Fritze Wegner aber möglichst schnell brauchte, viel Zeit hatte er nicht. „Wer hat heut zu Tage schon noch Zeit“, dachte Fritze Wegner und wusste aber, dass seine Lage viel ernster war.

MaLiNaSuNaSiMoN

Malina-Suna-Simon-Regen

13:00
Das Wort lebensunfähig geisterte in Malina Suna Simons Gedanken herum, während sie, den Kündigungsbrief fest umklammert, missmutig die schmale Fischerhäuschengasse in Richtung Bushaltestelle schlenderte. Ihre Laune passte zu dem Tröpfeln, zum grauen Himmelssbild, zu den Pfützen, in die sie immer wieder mit ihren viel zu langen, weiten Hosenbeinen schlurfte.
Der Nachbarsjunge übte wie jeden Tag um die Zeit auf seiner Trompete, „gab ein Krötenkonzert“ wie Malina Suna Simon es nannte. An anderen Tagen hätte sie sich innerlich über die Eltern aufgeregt, die solch einen Krach billigten, heute passten die kläglich gedrückten, verzerrten Laute ganz in ihr Stimmungsbild.
Sie schrieb das Wort lebensunfähig im Geiste in die Luft, wobei sie einen imaginären Buchstaben über den anderen setzte und sich zu konzentrieren versuchte, in dem nunmehr entstandenen Buschstabensalat noch das Wort als Ganzes entziffern zu können. Immer immer wieder schrieb sie die einzelnen Buchstaben in die Luft und ließ sich dabei den Klang des Wortes auf der Zunge zergehen:
L E B E N S U N F Ä H I G
Es begann an Bedeutung zu verlieren, beinahe schon komisch auf sie zu wirken, je öfter sie es sich von ihrer inneren Stimme gesprochen anhörte. Sie ging dazu über, die Buchstaben zu zählen. Malina Suna Simon schwor auf grade Wörter und Sätze. Es war Teil ihrer eigenen Küchenphilosophie nur Wörter ernstzunehmen, die auch grade waren. Es machte ihr schwer zu schaffen, dass ihr eigener Name 15 Buchstaben hatte, eine ungrade Anzahl, sie somit sich selber nicht ernstzunehmen hatte und es dennoch tat.
Lebensunfähig hatte 13 Buchstaben, war laut ihrer selbst erstellten These ein Unwort, musste also nicht weiter auf zutreffend oder unzutreffend auf sie untersucht werden.

13:15
Malina Suna Simon war noch so in Gedanken versunken, dass sie den nahenden Bus fast nicht bemerkt hätte. Die an ihrem Hosenbein abprallenden Schlammspritzer holten sie aus ihren Gedanken zurück und sie begann entnervt, an ihren diversen Anorak- und Hosentaschen zu nesteln um nach Kleingeld zu kramen.
Der Busfahrer hatte ein breites Lächeln auf seinem Gesicht und begrüßte sie auf eine derart freundliche Art und Weise, dass Malina Suna Simon beinahe übel wurde.
Wie konnte man an solch einem widerwärtigen Tag dermaßen gutgelaunt sein und dies auch noch nach Außen zur Schau tragen? Es kam ihr vor wie Hohn.
Während sie, Malina Suna Simon, prädestiniert für etwas ganz Großes, wieder einmal eine rote Karte erhalten hatte, erneut einen Schwarzen Peter gezogen, erfreute sich dieser dämlich grinsende Busfahrer, ausgerechnet ein Busfahrer, seines Lebens.

Donnerstag, 15. November 2007

FREAKSHOW

Friedrich hat sich die Welt, das Draußen anders vorgestellt.
Wohngebiet. Einfamilienhäuser mit angebauter Garage. Davor Vorgärten: meist Rasen, besprenkelt mit braunen Blättern; manchmal Blumenbeete, dann aber ohne Blumen. Die Bäume sind noch jung, schon kahl. Das Pflaster des Gehsteigs passt zum Rot der Dächer. Ein Kastenwagen fährt vorbei – elf Striche – dann ist es wieder still. Kein Mensch. Die Straße zieht sich durch eine langgezogene Biegung. Nirgendwo ein Mensch zu sehen. Nur Autos geparkt am Straßenrand. Und Leere.
Friedrich sucht dieses Gefühl. Irgendein Gefühl. Solang hat er gewartet, auf diesen Moment; gewartet und gewartet und jetzt... Er weiß nicht. Nur eine Vorahnung von Kopfschmerz.
Dann hinter ihm ein Geräusch. Metallnes Klappern, durchsetzt von schneidendem Quietschen. Eine Frau auf einem Fahrrad. Sie fährt an ihm vorbei. Er betrachtet ihren Hintern, der angestrengt über den breiten Sattel wiegt.
Friedrich würde auch gern mal Fahrradfahren; er hat es noch nie versucht.
Irgendwann, denkt er, irgendwann werde ich Fahrrad fahren.
Die Frau verschwindet in einer Seitenstraße. Die Leere hat sie schon erfüllt.

Mittwoch, 14. November 2007

Braunscheids Fauxpas

Was war das denn eben? Wo kam das denn her? Natürlich war Braunscheid fast umgefallen - aber das war doch kein Grund! War ja schließlich seine Schuld, dass er auf Zehenspitzen durch die Welt stakste und somit zur Gefahr für seine Mitmenschen wurde! Aber wieso hatte er dann das Mädchen, das gerade mit ihm zusammengestoßen war, auf eine derart unangemessene, ja: fiese Art beschimpft? “Pass doch auf!”, hatte er gesagt, so etwas hatte er noch nie gesagt, überhaupt hatte er noch nie jemanden derart beleidigt - und nun dieses kleine Mädchen. Das jetzt sicher hinter einer Ecke stand und weinte. Denn so, das wusste er, waren kleine Mädchen: Sie brachen immer sofort in Tränen aus, er verstand das, die Welt war grob, und ab diesem Moment gehörte er dazu: als grauer, schimpfender Sack.
Später, als er in frisch gebügelter Uniform am Steuer des Busses saß, versuchte er, noch freundlicher als bisher zu sein, als Ausgleich, aber er fühlte, dass alle wussten, dass er ein Verräter war.
Und dabei war der Grund für Braunscheids Fauxpas so nahe liegend: Es hatte einfach wehgetan, als das Mädchen in ihn hineingerannt war. Er hatte mit seinem Penis noch nie jemanden berührt. Er hatte einfach nie das Gefühl gehabt, das Recht dazu zu haben, und er wollte auch nicht an ihn denken. Sein Penis interessierte ihn nicht.

FREAKSHOW

Es ist ein durchschnittlicher Morgen, an dem Friedrich verschwindet; so durchschnittlich, dass jedes weitere Attribut, neben eben: durchschnittlich, schon überzogen wäre.
Friedrich wacht auf, da ist es siebenuhrvierundzwanzig. Neben ihm leuchten neunzehn rote Striche, dazwischen zwei Punkte. Er liegt auf der Seite, die Rollläden sind geschlossen. Friedrich verfolgt das Umspringen der Ziffern. Er wartet auf ein Geräusch.
Friedrich wird es hören, nachdem zwei Striche verschwunden sind, um wieder aufzutauchen. Zwei Striche, die zwei Ziffern zerstören, zwei Ziffern erschaffen werden – im ganzen werden es einundzwanzig Striche bleiben, einundzwanzig – eine unscheinbare Veränderung, vielleicht; würde nicht dieses Geräusch folgen: ein Knirschen Guten Morgen. Es ist siebenuhrdreißig, Nachrichten, würde ein Nachrichtensprecher sagen.
Dieses Knirschen. Und Friedrich schlägt auf den Knopf.
Dann steht er auf und drückt den Lichtschalter.
Während er die Rollläden hochzieht, betrachtet er sein Gesicht, im Spiegel der Scheibe. Draußen ist es noch dunkel.
Sieben Minuten später betritt eine Schwester den Raum, um Blutdruck zu messen. Friedrich sitzt auf seinem Bett, angezogen und hat den Ärmel seines Pullovers aufgekrempelt, wie immer. Die Schwester spricht von ihrem Sohn, der vierzehn ist und nach Rauch riecht, wenn er aus der Schule kommt. Der Blutdruck ist etwas zu niedrig.
Um viertel vor acht gibt es Frühstück. Drei Scheiben Weißbrot mit Margarine. Dazu Aprikosenmarmelade und Paprika-Mortadella.
Nachdem er gegessen hat, nimmt Friedrich zwei lippenstiftrote Kapseln aus einem Kästchen, das mit Wochentagen beschriftet ist. Er schluckt und vergisst die Farbe.
Danach zieht Friedrich einen Regenmantel über, und eine blaue Wollmütze auf den Kopf. Er geht mit seinem Tablett den Flur hinab und schiebt es in einen edelstahlglänzenden Rollwagen.
Ein Arzt klopft ihm auf die Schulter: Na Friedrich, Morgenspaziergang?
Draußen ist es diesig und windstill; der Himmel dicht. Keine Vögel.
Friedrich ist in Gedanken verloren. Er läuft im Kreis, folgt dem Kieselweg, unter der schwarzweißen Birke hindurch, an der Backsteinmauer entlang, dann an grünbelegten Holzbänken vorbei, durch den Park; immer wieder.
Nach der siebten Runde, eine Änderung: ein Summen lässt die Stille vibrieren. Gusseiserne Flügel gleiten auseinander – öffnen die Geschlossene – damit ein langgezogener Mercedes einfahren kann. Hinter der Heckscheibe hängt eine bildschirmgraue Gardine. Außerdem auf dem Nummernschild eine Zahl: dreihundertvierundsiebzig. Friedrich sieht dem Wagen nach und denkt an dreizehn rotleuchtende Striche, bis das Motorengeräusch verstummt ist, irgendwo in der Tiefgarage der Pathologie.
Dann bemerkt er wieder dieses Summen, ohrenbetäubend diesmal und aufdringlich, dabei noch immer sehr leise. Es ist die Wiederholung – eine Fliege, die immer wieder gegen die Scheibe stößt – unerträglich dieses Summen, mit einem Mal. Die gusseisernen Flügel zucken, bewegen sich vor und zurück, und doch verändert sich nichts.
Es bleibt eine Lücke.
Friedrich geht auf das Tor zu. Sein Körper ist erfüllt von diesem Gefühl - die Hand über einem Glas mit Mineralwasser.
Eine Überwachungskamera betrachtet Friedrich, mit gläsriger Linse: wir blicken auf einen Mann herab, grau und verzerrt, wartend.
Doch die Umrisse sind zu undeutlich, die Perspektive täuscht: Friedrich wartet nicht.
Friedrich zögert einen Augenblick vor dem Freisein.
Er trifft eine Entscheidung - frei.

MaLiNaSuNaSiMoN

04:47
So sehr sich Malina Suna Simon auch bemühte, konnte sie das Bild ihres Großvaters nicht von ihrem inneren Auge verscheuchen. Um genauer zu sein, das recht lebhafte Bild seiner Glatze, an der sie als Kind so gerne gerochen hatte. Die Erinnerung an diese sie rührende Kopfhaut mit Runzeln, fast gleich der eines Neugeborenen, war in ihr noch so lebendig, unmittelbar vor ihr, neben ihr, als sei ihre letzte Begegnung erst gestern gewesen. Die Glatze war von ganz eigenartigem, undefinierbaren Geruch, hatte etwas von Babypuder, vielleicht auch von Plastik, der Art frischem Plastik, nach der Puppenköpfe riechen, wenn sie frisch aus der Fabrik kommen.
„Ein Indianer kennt keinen Schmerz!“ hatte ihr Großvater immer gesagt. Noch auf seinem Sterbebett hatte er es gesagt, hatte es immer zu ihr gesagt, wenn sie als kleines Mädchen den Tränen nahe zu ihm gekommen war, um sich im wohligen Geruch der von ihr heißgeliebten Glatze zu vergraben, immer wenn ihre sächsischen Großonkel da waren, die sich nicht entblödeten, die Katze am Schwanz zu halten und über den feierlich gedeckten Tisch baumeln zu lassen.

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05:30
Malina Suna Simon schlug langsam ihre Augen auf, tastete sich im Dunklen nach ihrem Radiowecker vor, stieß sich dabei den Kopf am Nachttisch und verschüttete den Rest Vodka der am Abend offen stehen gelassenen Flasche über ihren Perserteppich. Fluchend kam sie zu sich, zurück ins Hier und Jetzt. Ihr Kopf war noch schwer von der durchzechten Nacht, langsam kamen ihr wieder die Bilder des Vortages in den Sinn. Augenblicklich wollte sie in das Reich des Schlafes zurückkehren, sich in der Glatze ihres Großvaters vergraben, verbergen, einfach wieder Kind sein dürfen.
Ihr Blick fiel auf „ Also sprach Zarathustra“, ihre Bibel, die nunmehr vodkadurchtränkt auf dem Teppichboden lag. Mühevoll trennte sie zwei durchnässte, klebende Seiten voneinander und las: "Zu meinem Ziele will ich, ich gehe meinen Gang; über die Zögernden und Saumseligen werde ich hinwegspringen. Also sei mein Gang ihr Untergang."

Dienstag, 13. November 2007

...

Du schließt deine Gitarre an den Verstärker an und deine Finger gleiten tastend über das Griffbrett, spielen die Melodie, die du seit Tagen übst. Du spielst sie auch schon ganz gut, bis zu der Stelle, an der du deinen Zeigefinger auf den falschen Bund stellst und einen unbeabsichtigten Ton erzeugst. Augenblicklich korrigierst du deine Fingerhaltung, aber der Misston ist da, schwingt leise nach, ist existent. Geduldig spielst du die Melodie ein weiteres Mal, diesmal langsamer, und jetzt gelingt sie dir fehlerlos. Deine Gedanken schweifen ab, deine Finger improvisieren eine Akkordabfolge, die dir wage bekannt vorkommt, und dein Blick konzentriert sich auf das Weiß hinter deines Fensters. Du denkst daran, wie du das letzte Mal Schnee sahst, wie es aussieht, wenn sich in dieses Weißweiß Blut mischt und du glaubst, einen leichten Geruch von Kirschblüten im Frühling wahrzunehmen. Er hätte es einfach nicht sagen dürfen, denkst du in deinem kindlichen Trotz, er hätte wissen müssen, dass er irrt. Im Schnee registrierst du eine Bewegung, erst ganz verhalten, aber du bemerkst sie, musst sie bemerken. El-ahrairah, ganz in weiß gekleidet, schleicht sich durch die Kälte des Winters, immer auf der Hut vor seinen tausendfachen Feinden. Deine Hand umfässt erneut den Hals der Gitarre und spielt eins der wenigen, nicht von Thom Yorke gesungenen Lieder, die du liebst: There's a fog along the horizon/A strange glow in the sky/And nobody seems to know where you go/And what does it mean?/Oh, is it a dream?

...

Schmutzige Spiegel und räum endlich die Lockenwickler an ihren Platz und alles muss man dir zwei Mal sagen und strohiges, aschblondes Haar, ungepflegt, das darf es nicht geben, Friseure mit ungepflegtem Haar, nicht in meinem Salon, nicht hier, Viola du kannst gehen, jederzeit, ich halte dich nicht auf, Viola, Viola, blauen Glasreiniger, hätten die nötig, die Spiegel und los, worauf wartest du, spring, wenn du noch kannst, Viola, winzige Stoppelhärchen, die sich in Körperoberflächen beißen, Viola, es gibt kein Entkommen, wenn du nicht endlich diesen verdammten Besen in die Hand nimmst!

Und auf dem Nachhauseweg diese Frau. Eine verstörende Vertrautheit, als hätte man irgendwann schon einmal irgendwas miteinander erlebt, als hätte es schon einmal einen Anfang gegeben.

Adam

"Und Abimelch sprach weiter zu Abraham: Wie bist du dazu gekommen, daß du solches getan hast? Abraham sprach: Ich dachte, gewiß ist keine Gottesfurcht an diesem Ort, ..." 1. Mose, 20, 10 u. 11

Morgen wäre es einmal wieder vorbei. Diese Welt, diese isolierte, diese nach warmen Zucker, nach vergossenen Bier, Erbrochenem, nach vollgepissten Büschen duftende Woche eines Festplatzes. Kinder mit vielfarbenden Plastik in der einen, ihre Eltern an der anderen Hand. Gelächter fremder Menschen, fremder Witze. Lichter der Schaubuden, die, so oft gesehen, die verschiedensten Menschen, alle im gleichen Schein erfassen. Zurück nachhause. Was im Prinzip nur eine andere Konstellation der Wohnwagen bedeutet, nur kein warmer Zucker, nur kein vergossenes Bier. Der Discofoxbeat des Zeltes leitete den letzten Abend ein, die letzte dröhnende Nacht, in der Adam versuchte zu schlafen und es nicht gelang. Das Starren an seine kleine farblose Gardine, die Farben der Lichtmaschine aus dem Zelt eingefangen und nun ständig rot, gelb, grün flackernd, machte Adam nicht müde. Es war ihm so bekannt, es nervte nicht, doch Einschlafen ging dennoch nicht. Vielleicht noch einmal anziehen, rausgehen, versuchen auszusehen als würde man nicht auf der anderen Seite sein als würde man nicht nicht dorthin gehören. Einmal an den Wohnwagen seiner Familie vorbeigehen, in manchen brannte noch Licht, in manchen nicht. Die geschlossenen Büdchen sahen unbekannt aus, das Kettenkarussell, die Ketten wogen sich nur leicht im Wind, stand unbeachtet da, auf seinen blechernden Stufen einige zu alte Kinder, rauchend, trinkend, tratschend. Hinter dem Autoscooter, die schwarze dicke Plane im Rücken, war es fast still. Die Musik wurde hier dumpf, die Menschen nicht zu hören. Adam schaute raus, zwischen den Bäumen entlang, auf den weiten Acker. Dunkle, verschluckte Stille. Doch Adam war wachsam. Er sah etwas aufblitzen, nicht dazugehören, im Augenwinkel verschwinden. Er reagierte, sprang in den kleinen Grabenlauf der vor ihm lag und rannte, schwarze Tannen, Äste, Nadeln peitschten an Hals, Wange, Stirn. Dann versteinernde er. Es rieselte zwischen Hemd und Haut. Es juckte, doch er blieb still. Nichts fokussierend, alles schwarz, verschluckend, nahm er alles wahr. Ein Standbild vor seinen Augen. Wo war der Fehler? Was gehorchte nicht? Es blitzte erneut. Eine winzige, erhellte Projektion auf seiner Netzhaut, zurechtgedreht, erkannt und abgesprungen. Knisternd, zerberstend, landete er im toten Geäst und griff danach, nach dem Blitz.
Er war weich, der Blitz, er war kein Blitz. Klein und hell und weich, so weich, wie schon lange nichts mehr. Adam schaute auf, doch es war weg. Nur noch das Dunkel war da, das verschluckende. Keine Bewegung, kein Licht. Kein heller, weicher Blitz.

...

Als Pina um sieben Uhr morgens aufsteht, sind ihre Eltern schon weg, nur ein Zettel auf dem Tisch: „Die Lokführer streiken weiter, Liebe Grüße Mama + Papa“ und Pina fragt sich, was denn streikende Lokführer eigentlich so machen. Stellt sich vor wie alle zusammen in einem Wagon sitzen, Karten spielen und Tee trinken oder vielleicht sogar einen Ausflug in die Berge unternehmen. „Viel Spaß“, schreibt sie auf das Papier. Setzt sich ans Fenster, an dem die Wassertropfen langsam hinunter laufen, dennoch nie die Kakteen erreichen, dieser Dienstag ist sehr Orange, ein unangenehm starker Farbton, auch von viel zu ungezähmter Form, solche Dienstage mag sie nicht, erst recht nicht, wenn sie nach Salami riechen. Marvin und Leo klettern auf den Tisch, schauen aus ihren Mäuseknopfaugen, stimmen ein „Don’t worry be happy“ an in wunderbar rosafarbenen Tönen, „Was hast du geträumt heute Nacht?“, fragen sie. Das Bild verschwimmt in einem Klangsalat aus Fantasielauten, alles rutscht durch einen Strudel aus Farben, die Sicht wird wieder klarer:
Eine Limousine saust von links ins Bild, am Steuer die Präsidentin auf den anderen Sitzen und im Kofferraum mindesten 47 Kinder verschiedenfarbigster Hautfarbe, alle adoptiert, sagt die Präsidentin lächelnd ins Mikrofon, beginnt die Wahrscheinlichkeitsrechnung zu referieren, die Kinder schreiben eifrig mit, wir müssen, sagt die Präsidentin lächelnd ins Mikrofon, wirft die Zettel aus dem Fenster, drückt aufs Gaspedal, die Limousine hupft ein paar Mal, verschwindet im Staub. Farbstrudel, Klangsog, Größenangleich. Die Mäuse und Pina lachen, Pina wirft sich den Schulranzen über die Schulter: „Muss los“, nimmt den Fahrstuhl, der genau 23 Sekunden braucht, rennt auf die Straße hinaus gegen einen auf Zehenspitzen laufenden Mann („Pass doch auf!“), Gehwege entlang, durch die Poststraße, matschige Blätter, Zebrastreifen, Pfützen, Treppen, Gänge, Mathematik.

Sonntag, 11. November 2007

Kissen Kreis Kaninchen

...Rote Sitzkissen. Im Innern Kirschkerne. Kreisförmig angeordnet. Immer einer von ihnen in der Mitte. Und er kann nicht denken. Denkt nur an Regen. Immerfort. Regen. Regen. Es regt sich etwas. Wenn es regnet. Es geraten Dinge ins Leben. Pfützen. Spiegelnde Pfützen. Und die Spiegel sind Gegner. Weil sie spiegeln. Eben heute hat er jemanden wieder getroffen und er ist schon ganz anders als letztes Jahr. Er hat ihn erst gesehen, als er in der Mitte saß. Auf den Kirschkernen. Dann haben sie alles eingeordnet. Sie haben Ordnungen und Reihenfolgen erstellt, mussten Diagramme zeichnen, die er nicht verstanden hat. Am Ende waren sie Ziffern. Auf dem Heimweg ist er in Kästchen gegangen. Mit Kirschkernabdrücken auf der Rückseite. Eine Stunde verrinnt. Er läuft und läuft, weil sich jetzt wieder alles frisch anfühlt. Mehr Zeit vergeht, rinnt. Fließende Zeit. Aus Kästchen werden Linien, die sich bald in ihrer Ungleichmäßigkeit verlieren. Zoom. Männer. Männer, die auf Leben und Tod unterwegs sind. Die Transplantationsbox als Aktentasche. Zoom. Häuser, von denen er nicht weiß, wie weit sie noch unter die Erde ragen würden. In ihrer Unendlichkeit an Stockwerken, Fenstern, Menschen und Lebensgeschichten, die nur die Treppen zusammen halten. Als es spät ist, passt der Schlüssel nicht mehr ins Schloss und alles steht still. Zeit vergeht. Musik spielt. Karussell kreist. Die Welt dreht sich.

Was hier passiert:

Anfang. Ende. ist ein virtuelles Romanprojekt des Studiengangs Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus: dreizehn Personen, eine Katze, ein Hase und eine fremde Macht. Die Zeichen stehen auf Sturm. In Tagen wird es vorüber sein.

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Aline Kappich, Azar Mortazavi, Clara Ehrenwerth, Eva-Lena Lörzer, Fabian Hischmann, Florian Balle, Hieu Hoang Duc, Janna Schielke, Julia Schulz, Max Balzer, Phillip Hartwig, Sebastian Albrecht, Sebastian Polmans, Susanne Kruse. Moderiert von Jule D. Körber und Lino Wirag.

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