Montag, 19. November 2007

Marie hätte das so nicht erwartet.

Als sie an diesem Tag durch den Caulfield-Park wandert, sieht sie ein Mäedchen am Boden sitzen. Ein schönes Mädchen, das sich im Fluss die Hände wäscht.
Marie bleibt stehen, "was machst du da?"
Das Mädchen blickt auf, "ich erinnere mich an früher, hast du vielleicht Zigaretten?"
Marie reicht ihr die Packung, sagt warnend, dass die meisten Menschen blaue Gauloises zu stark finden. Das Mädchen mit dem nassen Ärmel winkt ab: „Die meisten Menschen finden auch Nick Caves Stimme zu theatralisch.“ Ach, denkt Marie, theatralisch ist das falsche Wort, Scheiße würde es besser treffen. Dann stehen sie nebeneinander und fangen an zu spucken.

...

Pina presst den Daumen auf die Klingel, bis er weiß wird. Mihir spricht in die Gegensprechanlage, „Hallo“, dann surrt die Tür. 57 Stufen, Mihir in einem langen bunten Gewand, er umarmt Pina. „Hab noch Wackelpudding“, sagt er zwinkernd, hat sehr viele Falten um die Augen dabei. Dann sitzen sie wie immer in der Hocke auf dem Boden, erzählen und erzählen. Mihir erzählt vom Kastensystem in Indien, von den heiligen Kühen, die einfach so auf der Straße laufen und alle müssen um sie herum fahren. Es gibt sogar Menschen, die die verletzten Kühe auf Lastern zum Tierarzt fahren. „Was gibt’s bei dir Neues?“ Pina erzählt vom Sonntag, käsefarben, Omabesuchstag. „Sie sagt immer Lina zu mir, kapiert die das denn nicht?“ Mihir lacht wunderbar wellenförmig: „Tja, alte Leute...“, sagt er und streicht sich durch sein weißes Haar. „Ich muss noch einkaufen, kommst du mit?“ Draußen ist es mittlerweile dunkel, hat zu nieseln angefangen, der kleine Supermarkt hellerleuchtet mit einem merkwürdigen Geruch nach Bananen und Spülmittel. „Kannst mir schon mal Reis holen." Pina saust durch das Labyrinth aus bunten Dosen und Schachteln: Müslipackungen, Klopapier, Shampoo, Oliven, Saft, Salz, und dann: Eine Frau, Mitte 30 vielleicht, lässt eine Tube Zahnpasta in ihre Manteltasche gleiten. „Hey“, entfährt es Pina, „das ist Betrug!“ Die Frau dreht sich um, lacht: „Betrug, Betrug, das ist doch nur gemopst, GEMOPST sieben Buchstaben, verstehst du?“ „Sie dürfen das nicht“, knurrt Pina, die Luft ist mittlerweile Giftgrün geworden, schrecklich eckig. „Das geht dich einen Scheißdreck an, was ich darf und was nicht“, sagt die Frau und verschwindet mit ein paar schnellen Schritten aus dem Laden.

...

Bog, bog, ruft Mladenka, er sagt, was und Ziege. Mladenka versteht ihn, sie spricht seine Sprache, er aber nicht ihre (und das gefällt ihr). Sie sagt nichts, denkt an Bocksgesang und schnalzt mit der Zunge, die sie sich verbrüht hat, am heißen Schnaps von heute morgen, daher ist es ein Schnalzen, das so leise ist, dass es es im Mundraum gar nicht erst zu einem Geräusch schafft. Der Bus fährt an, Stöße kommen auf, und Mladenka muss sich mit der Linken, in der Rechten hält sie einen Schuhkarton, an einem jungen Mädchen festhalten, das ein Magazin in der Hand hält - eine nackte Frau mit langen schwarzen Haaren, die ihr aus Mund und Kopf wachsen, Schultern und Brüste bedecken. Kassandra, steht ganz oben in schwarzen Lettern über dem Kopf der Frau. Das sieht Mladenka und denkt, während sie sich auf einen Fensterplatz setzt, den Schuhkarton auf dem Schoß, an den jungen Mann, mit dem sie sich vor ein paar Tagen auf dem Marktplatz unterhalten hat, in seiner Sprache, nicht in ihrer. Er sagte, hallo, junge Frau, ich heiße wie mein Name und bin frei, erinnert sich Mladenka und schaut aus dem Fenster auf die Straße ohne zu sehen. Heißen sie auch wie ihr Name, fragte der junge Mann, und Mladenka weiß, dass sie da lachte als er das fragte, weshalb sie auch jetzt lacht. Sie sieht ihr Lachen sich im Fenster spiegeln, denkt dann weiter an das Gespräch mit dem Mann. Ja, sagte Mladenka, und so, ich heiße auch so. Daraufhin bestellte der junge Mann eine Rosinenschnecke und Mladenka bat den Bäcker um Brotreste für ihre Tauben. Der junge Mann sagte, Taub… Der Bus hält. Ein Mädchen mit Augen wie Streichhölzer setzt sich neben Mladenka.

Widerstand

Zurück nach dem Zurück, Georg bleibt im Bett, allein, wie immer. Als sie geht sagt er: "Du bist wie ein Kolibri, immer in Bewegung. Hast du gewusst, dass die kleinen Dinger im Fliegen schlafen?"
Sie tapst die Treppen runter nach draußen, die Luft macht sie wach, die Sonne scheint, lässt die kleine Narbe in ihrem Gesicht aufblitzen und sie denkt an ihr erstes Fahrrad und den Tag, an dem die Stützräder versagten.
Auf dem Brückengeländer glitzert der Restregen, bis ihr Jackenärmel sich seiner annimmt. Heute schwimmen keine Enten unter ihr hindurch, Spucken ohne Ziel.
Im Central Park gibt es auch Enten, dass weiß sie von Holden Caulfield.
Irgendwann, sie hat keine Vorstellung davon, wie viele Liter Wasser zuvor bereits unter ihren baumelnden Füßen weggeflossen sind, kniet sie im nassen Gras am Bachufer und hält ihre Hand, die Finger aneinander gedrückt, ins Wasser und spürt den Widerstand solange, bis sie die Finger spreizt und das Wasser angenehm hindurchstreicht.
"Was machst du da?" Das Mädchen auf der Brücke, nicht Vanessa Paradis, sieht nett aus, und nach guter Musik. "Ich erinnere mich an früher. Hast du vielleicht Zigaretten?"
Wenig später dann, nebeneinander, zwei Mädchen.
"Die meisten Leute finden blaue Gauloises zu stark."
"Die meisten Leute finden Nick Caves Stimme zu theatralisch.
Enten landen auf dem Bach, nur ein Erpel ist darunter.
"Die meisten Leute haben keine Ahnung."
"Ich kenne ein Spiel", sagt das Mädchen mit dem nassen Ärmel.

FREAKSHOW

Die Redakteurin steht am geöffneten Fenster und raucht. Dann lässt sie die Zigarette fallen, hinab auf den Parkplatz - ein Vorgesetzter tritt ein.
Haben Sie geraucht? Sie wissen doch, dass hier Nichtraucher ist!
Sie wedelt nicht mit der Hand, um den Rauch zu vertreiben. Eine Geste.
Der Vorgesetzte lächelt.
Mein Gott! Manchmal komm ich mir vor, wie ein Lehrer auf Klassenfahrt. Na ja... Gleich können Sie so viel rauchen, wie sie wollen. Sie haben einen Auftrag! Aus der Psychiatrischen ist mal wieder ein Irrer abgehauen. Sie fahren runter und sammeln ein paar O-Töne. Ich will den behandelnden Arzt und vor allem vergessen Sie die Krankenschwestern nicht. Die reden gerne...
Die Redakteurin nickt. Der Vorgesetzte lässt seinen Blick an ihr herabstreifen, während er die Tür schließt. Die Redakteurin sieht auf ihre kleine silberne Armbanduhr: nicht mal neun. Sie steckt sich eine Zigarette an.

Was hier passiert:

Anfang. Ende. ist ein virtuelles Romanprojekt des Studiengangs Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus: dreizehn Personen, eine Katze, ein Hase und eine fremde Macht. Die Zeichen stehen auf Sturm. In Tagen wird es vorüber sein.

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Impressum:

Aline Kappich, Azar Mortazavi, Clara Ehrenwerth, Eva-Lena Lörzer, Fabian Hischmann, Florian Balle, Hieu Hoang Duc, Janna Schielke, Julia Schulz, Max Balzer, Phillip Hartwig, Sebastian Albrecht, Sebastian Polmans, Susanne Kruse. Moderiert von Jule D. Körber und Lino Wirag.

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