Freitag, 16. November 2007

Beobachtung Nr. 3749

Punk: meist bunte Haare und rissige Kleidung, manchmal Piercings (s. S.67); laute, schnelle, anspruchslose Rockmusik (s.S. 306); rüdes Benehmen, Alkoholkonsum; eigentlich seit den achtziger Jahren untergegangen (siehe auch Retro, S. 452) Das schien zutreffend zu sein, Fritze Wegner konnte getrost hinter „sehr jung (unter 16), weiblich, in der Gruppe“ das Charakteristikum „Punk“ setzen. Wobei ihn dies zierliche Wesen in dem kurzen Faltenrock und den dicken Stiefeln eher an eine Dryade, oder an eine Elfe erinnerte, auch wenn diese wohl kaum auf dem Marktplatz Dosenbier getrunken hätte. Doch die Kleine war in ihrer Bewegung und Stimmfarbe so glockenklar wie es sonst nur in den alten Mythen beschrieben wird und heute von schwarzem Kajal übermalt wird. Die Punkelfe war mit Abstand das interessanteste Objekt, denn sie flitzte von einem zum nächsten, lachte und ließ sich bewundern, während die meisten der anderen Objekte lethargisch die angenehme Luft mit Blicken durchlöcherten und ihre Faulheit zur Schau stellten. Schon eine ganze Weile sah Fritze Wegner, aus gebührenden Abstand versteht sich, der Punkelfe beim „saufen“ (S. 45) und „sich unterhalten“ (S.77) zu und hoffte auf ein Ereignis, eine Kuriosität, etwas, dass die Punkelfe zu besonderem oder auffälligem Verhalten veranlassen würde. Nichts, seit Stunden. So erhob er sich langsam von der unbequemen Holzbank und schritt auf seinen Stock gestützt Richtung Bäckerei, die ohnehin um neunzehn Uhr, das heißt in sieben Minuten und zweiunddreißig Sekunden, schloss. Als er sie erreichte war bereits Ladenschluss, doch die Verkäuferin (ca. 40, pummelig) wartete freundlicherweise. „Tut mir leid, die alten Knochen machen’s nicht mehr so“, entschuldigte er sich, worauf sie nur lachte: „Wir sind doch alle nicht mehr die Jüngsten!“ Und damit hatte sie recht. Wer ist heute schon noch jung?, fragte sich Fritze Wegner, als er seine Mehrkornbrötchen mit Schmalz bestrich und wusste genau wie absurd, wenn nicht gar anmaßend diese Frage war. War er doch derjenige, der am allerwenigsten wusste, was „jung sein“ überhaupt bedeutete. Diese zermürbenden Gedanken vertreibend, verließ er die kleine Küche mit Klappsofa, die er auch zum schlafen nutzte und betrat den wichtigen Teil seines Reihenhauses. Das Medienzimmer mit Computer, Fernseher, Playstation und ähnlichem Schnickschnack ließ er hinter sich, genau wie die Bibliothek, in der sich Notizordner und Zeitschriften säuberlich zwischen den Regalbrettern aufstellten, und ging stattdessen zum heiligsten Ort von allen, dem Kabinett. Er heftete das Foto der Punkelfe, nebst Kurzbeschreibung an die Wand zwischen die weinenden Mädchen bei dem Boygroup (S. 656)-Konzert, den Studenten mit dem Joint (S. 3) und den drei pummeligen Jungs, die versuchten ihr Dosenbier durch die Nasenlöcher zu trinken. Mit ein wenig Stolz bemerkte Fritze Wegner, dass nicht mehr für viele Fotos und Kurzbeschreibungen Platz sein würde in seinem Kabinett, was übrigens entgegen seiner Notizen keinerlei Ordnung besaß. Geschminkte Mädchen mit Schulranzen, eine Pfadfindergruppe, junge Männer mit kahl rasierten Schädeln, Oberschülerinnen in einem Kaufhaus, ein Mädchen mit langen Haaren mit einem dicken Buch, ein ernster Junge mit Zeitung, eine Musikerin in der Fußgängerzone, Massen von jungen Menschen in einer Großraumdisko, schwarze Gestalten unter einem riesigen Sonnenschirm, gelangweilte Jugendliche an einer Straßenecke, Fritze Wegner auf einem Stuhl sitzend belächelte all seine Schätze, die er, jeden einzelnen, liebte, aber die erst im Gesamtbild wirklichen Wert hatten. Denn das Gesamtbild, das Gesamtbild, das Gesamtbild könnte vielleicht irgendwann eine Antwort geben, die Fritze Wegner aber möglichst schnell brauchte, viel Zeit hatte er nicht. „Wer hat heut zu Tage schon noch Zeit“, dachte Fritze Wegner und wusste aber, dass seine Lage viel ernster war.

MaLiNaSuNaSiMoN

Malina-Suna-Simon-Regen

13:00
Das Wort lebensunfähig geisterte in Malina Suna Simons Gedanken herum, während sie, den Kündigungsbrief fest umklammert, missmutig die schmale Fischerhäuschengasse in Richtung Bushaltestelle schlenderte. Ihre Laune passte zu dem Tröpfeln, zum grauen Himmelssbild, zu den Pfützen, in die sie immer wieder mit ihren viel zu langen, weiten Hosenbeinen schlurfte.
Der Nachbarsjunge übte wie jeden Tag um die Zeit auf seiner Trompete, „gab ein Krötenkonzert“ wie Malina Suna Simon es nannte. An anderen Tagen hätte sie sich innerlich über die Eltern aufgeregt, die solch einen Krach billigten, heute passten die kläglich gedrückten, verzerrten Laute ganz in ihr Stimmungsbild.
Sie schrieb das Wort lebensunfähig im Geiste in die Luft, wobei sie einen imaginären Buchstaben über den anderen setzte und sich zu konzentrieren versuchte, in dem nunmehr entstandenen Buschstabensalat noch das Wort als Ganzes entziffern zu können. Immer immer wieder schrieb sie die einzelnen Buchstaben in die Luft und ließ sich dabei den Klang des Wortes auf der Zunge zergehen:
L E B E N S U N F Ä H I G
Es begann an Bedeutung zu verlieren, beinahe schon komisch auf sie zu wirken, je öfter sie es sich von ihrer inneren Stimme gesprochen anhörte. Sie ging dazu über, die Buchstaben zu zählen. Malina Suna Simon schwor auf grade Wörter und Sätze. Es war Teil ihrer eigenen Küchenphilosophie nur Wörter ernstzunehmen, die auch grade waren. Es machte ihr schwer zu schaffen, dass ihr eigener Name 15 Buchstaben hatte, eine ungrade Anzahl, sie somit sich selber nicht ernstzunehmen hatte und es dennoch tat.
Lebensunfähig hatte 13 Buchstaben, war laut ihrer selbst erstellten These ein Unwort, musste also nicht weiter auf zutreffend oder unzutreffend auf sie untersucht werden.

13:15
Malina Suna Simon war noch so in Gedanken versunken, dass sie den nahenden Bus fast nicht bemerkt hätte. Die an ihrem Hosenbein abprallenden Schlammspritzer holten sie aus ihren Gedanken zurück und sie begann entnervt, an ihren diversen Anorak- und Hosentaschen zu nesteln um nach Kleingeld zu kramen.
Der Busfahrer hatte ein breites Lächeln auf seinem Gesicht und begrüßte sie auf eine derart freundliche Art und Weise, dass Malina Suna Simon beinahe übel wurde.
Wie konnte man an solch einem widerwärtigen Tag dermaßen gutgelaunt sein und dies auch noch nach Außen zur Schau tragen? Es kam ihr vor wie Hohn.
Während sie, Malina Suna Simon, prädestiniert für etwas ganz Großes, wieder einmal eine rote Karte erhalten hatte, erneut einen Schwarzen Peter gezogen, erfreute sich dieser dämlich grinsende Busfahrer, ausgerechnet ein Busfahrer, seines Lebens.

Was hier passiert:

Anfang. Ende. ist ein virtuelles Romanprojekt des Studiengangs Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus: dreizehn Personen, eine Katze, ein Hase und eine fremde Macht. Die Zeichen stehen auf Sturm. In Tagen wird es vorüber sein.

Archiv

November 2007
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 
 
 5 
12
 
 
 
 

Impressum:

Aline Kappich, Azar Mortazavi, Clara Ehrenwerth, Eva-Lena Lörzer, Fabian Hischmann, Florian Balle, Hieu Hoang Duc, Janna Schielke, Julia Schulz, Max Balzer, Phillip Hartwig, Sebastian Albrecht, Sebastian Polmans, Susanne Kruse. Moderiert von Jule D. Körber und Lino Wirag.

Adam Schiffers
friedrich2
Hans-Peter Braunscheid
MaLiNaSuNaSiMoN
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren