Mittwoch, 14. November 2007

Braunscheids Fauxpas

Was war das denn eben? Wo kam das denn her? Natürlich war Braunscheid fast umgefallen - aber das war doch kein Grund! War ja schließlich seine Schuld, dass er auf Zehenspitzen durch die Welt stakste und somit zur Gefahr für seine Mitmenschen wurde! Aber wieso hatte er dann das Mädchen, das gerade mit ihm zusammengestoßen war, auf eine derart unangemessene, ja: fiese Art beschimpft? “Pass doch auf!”, hatte er gesagt, so etwas hatte er noch nie gesagt, überhaupt hatte er noch nie jemanden derart beleidigt - und nun dieses kleine Mädchen. Das jetzt sicher hinter einer Ecke stand und weinte. Denn so, das wusste er, waren kleine Mädchen: Sie brachen immer sofort in Tränen aus, er verstand das, die Welt war grob, und ab diesem Moment gehörte er dazu: als grauer, schimpfender Sack.
Später, als er in frisch gebügelter Uniform am Steuer des Busses saß, versuchte er, noch freundlicher als bisher zu sein, als Ausgleich, aber er fühlte, dass alle wussten, dass er ein Verräter war.
Und dabei war der Grund für Braunscheids Fauxpas so nahe liegend: Es hatte einfach wehgetan, als das Mädchen in ihn hineingerannt war. Er hatte mit seinem Penis noch nie jemanden berührt. Er hatte einfach nie das Gefühl gehabt, das Recht dazu zu haben, und er wollte auch nicht an ihn denken. Sein Penis interessierte ihn nicht.

FREAKSHOW

Es ist ein durchschnittlicher Morgen, an dem Friedrich verschwindet; so durchschnittlich, dass jedes weitere Attribut, neben eben: durchschnittlich, schon überzogen wäre.
Friedrich wacht auf, da ist es siebenuhrvierundzwanzig. Neben ihm leuchten neunzehn rote Striche, dazwischen zwei Punkte. Er liegt auf der Seite, die Rollläden sind geschlossen. Friedrich verfolgt das Umspringen der Ziffern. Er wartet auf ein Geräusch.
Friedrich wird es hören, nachdem zwei Striche verschwunden sind, um wieder aufzutauchen. Zwei Striche, die zwei Ziffern zerstören, zwei Ziffern erschaffen werden – im ganzen werden es einundzwanzig Striche bleiben, einundzwanzig – eine unscheinbare Veränderung, vielleicht; würde nicht dieses Geräusch folgen: ein Knirschen Guten Morgen. Es ist siebenuhrdreißig, Nachrichten, würde ein Nachrichtensprecher sagen.
Dieses Knirschen. Und Friedrich schlägt auf den Knopf.
Dann steht er auf und drückt den Lichtschalter.
Während er die Rollläden hochzieht, betrachtet er sein Gesicht, im Spiegel der Scheibe. Draußen ist es noch dunkel.
Sieben Minuten später betritt eine Schwester den Raum, um Blutdruck zu messen. Friedrich sitzt auf seinem Bett, angezogen und hat den Ärmel seines Pullovers aufgekrempelt, wie immer. Die Schwester spricht von ihrem Sohn, der vierzehn ist und nach Rauch riecht, wenn er aus der Schule kommt. Der Blutdruck ist etwas zu niedrig.
Um viertel vor acht gibt es Frühstück. Drei Scheiben Weißbrot mit Margarine. Dazu Aprikosenmarmelade und Paprika-Mortadella.
Nachdem er gegessen hat, nimmt Friedrich zwei lippenstiftrote Kapseln aus einem Kästchen, das mit Wochentagen beschriftet ist. Er schluckt und vergisst die Farbe.
Danach zieht Friedrich einen Regenmantel über, und eine blaue Wollmütze auf den Kopf. Er geht mit seinem Tablett den Flur hinab und schiebt es in einen edelstahlglänzenden Rollwagen.
Ein Arzt klopft ihm auf die Schulter: Na Friedrich, Morgenspaziergang?
Draußen ist es diesig und windstill; der Himmel dicht. Keine Vögel.
Friedrich ist in Gedanken verloren. Er läuft im Kreis, folgt dem Kieselweg, unter der schwarzweißen Birke hindurch, an der Backsteinmauer entlang, dann an grünbelegten Holzbänken vorbei, durch den Park; immer wieder.
Nach der siebten Runde, eine Änderung: ein Summen lässt die Stille vibrieren. Gusseiserne Flügel gleiten auseinander – öffnen die Geschlossene – damit ein langgezogener Mercedes einfahren kann. Hinter der Heckscheibe hängt eine bildschirmgraue Gardine. Außerdem auf dem Nummernschild eine Zahl: dreihundertvierundsiebzig. Friedrich sieht dem Wagen nach und denkt an dreizehn rotleuchtende Striche, bis das Motorengeräusch verstummt ist, irgendwo in der Tiefgarage der Pathologie.
Dann bemerkt er wieder dieses Summen, ohrenbetäubend diesmal und aufdringlich, dabei noch immer sehr leise. Es ist die Wiederholung – eine Fliege, die immer wieder gegen die Scheibe stößt – unerträglich dieses Summen, mit einem Mal. Die gusseisernen Flügel zucken, bewegen sich vor und zurück, und doch verändert sich nichts.
Es bleibt eine Lücke.
Friedrich geht auf das Tor zu. Sein Körper ist erfüllt von diesem Gefühl - die Hand über einem Glas mit Mineralwasser.
Eine Überwachungskamera betrachtet Friedrich, mit gläsriger Linse: wir blicken auf einen Mann herab, grau und verzerrt, wartend.
Doch die Umrisse sind zu undeutlich, die Perspektive täuscht: Friedrich wartet nicht.
Friedrich zögert einen Augenblick vor dem Freisein.
Er trifft eine Entscheidung - frei.

MaLiNaSuNaSiMoN

04:47
So sehr sich Malina Suna Simon auch bemühte, konnte sie das Bild ihres Großvaters nicht von ihrem inneren Auge verscheuchen. Um genauer zu sein, das recht lebhafte Bild seiner Glatze, an der sie als Kind so gerne gerochen hatte. Die Erinnerung an diese sie rührende Kopfhaut mit Runzeln, fast gleich der eines Neugeborenen, war in ihr noch so lebendig, unmittelbar vor ihr, neben ihr, als sei ihre letzte Begegnung erst gestern gewesen. Die Glatze war von ganz eigenartigem, undefinierbaren Geruch, hatte etwas von Babypuder, vielleicht auch von Plastik, der Art frischem Plastik, nach der Puppenköpfe riechen, wenn sie frisch aus der Fabrik kommen.
„Ein Indianer kennt keinen Schmerz!“ hatte ihr Großvater immer gesagt. Noch auf seinem Sterbebett hatte er es gesagt, hatte es immer zu ihr gesagt, wenn sie als kleines Mädchen den Tränen nahe zu ihm gekommen war, um sich im wohligen Geruch der von ihr heißgeliebten Glatze zu vergraben, immer wenn ihre sächsischen Großonkel da waren, die sich nicht entblödeten, die Katze am Schwanz zu halten und über den feierlich gedeckten Tisch baumeln zu lassen.

zarathustra-images

05:30
Malina Suna Simon schlug langsam ihre Augen auf, tastete sich im Dunklen nach ihrem Radiowecker vor, stieß sich dabei den Kopf am Nachttisch und verschüttete den Rest Vodka der am Abend offen stehen gelassenen Flasche über ihren Perserteppich. Fluchend kam sie zu sich, zurück ins Hier und Jetzt. Ihr Kopf war noch schwer von der durchzechten Nacht, langsam kamen ihr wieder die Bilder des Vortages in den Sinn. Augenblicklich wollte sie in das Reich des Schlafes zurückkehren, sich in der Glatze ihres Großvaters vergraben, verbergen, einfach wieder Kind sein dürfen.
Ihr Blick fiel auf „ Also sprach Zarathustra“, ihre Bibel, die nunmehr vodkadurchtränkt auf dem Teppichboden lag. Mühevoll trennte sie zwei durchnässte, klebende Seiten voneinander und las: "Zu meinem Ziele will ich, ich gehe meinen Gang; über die Zögernden und Saumseligen werde ich hinwegspringen. Also sei mein Gang ihr Untergang."

Was hier passiert:

Anfang. Ende. ist ein virtuelles Romanprojekt des Studiengangs Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus: dreizehn Personen, eine Katze, ein Hase und eine fremde Macht. Die Zeichen stehen auf Sturm. In Tagen wird es vorüber sein.

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Impressum:

Aline Kappich, Azar Mortazavi, Clara Ehrenwerth, Eva-Lena Lörzer, Fabian Hischmann, Florian Balle, Hieu Hoang Duc, Janna Schielke, Julia Schulz, Max Balzer, Phillip Hartwig, Sebastian Albrecht, Sebastian Polmans, Susanne Kruse. Moderiert von Jule D. Körber und Lino Wirag.

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