Dienstag, 13. November 2007

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Du schließt deine Gitarre an den Verstärker an und deine Finger gleiten tastend über das Griffbrett, spielen die Melodie, die du seit Tagen übst. Du spielst sie auch schon ganz gut, bis zu der Stelle, an der du deinen Zeigefinger auf den falschen Bund stellst und einen unbeabsichtigten Ton erzeugst. Augenblicklich korrigierst du deine Fingerhaltung, aber der Misston ist da, schwingt leise nach, ist existent. Geduldig spielst du die Melodie ein weiteres Mal, diesmal langsamer, und jetzt gelingt sie dir fehlerlos. Deine Gedanken schweifen ab, deine Finger improvisieren eine Akkordabfolge, die dir wage bekannt vorkommt, und dein Blick konzentriert sich auf das Weiß hinter deines Fensters. Du denkst daran, wie du das letzte Mal Schnee sahst, wie es aussieht, wenn sich in dieses Weißweiß Blut mischt und du glaubst, einen leichten Geruch von Kirschblüten im Frühling wahrzunehmen. Er hätte es einfach nicht sagen dürfen, denkst du in deinem kindlichen Trotz, er hätte wissen müssen, dass er irrt. Im Schnee registrierst du eine Bewegung, erst ganz verhalten, aber du bemerkst sie, musst sie bemerken. El-ahrairah, ganz in weiß gekleidet, schleicht sich durch die Kälte des Winters, immer auf der Hut vor seinen tausendfachen Feinden. Deine Hand umfässt erneut den Hals der Gitarre und spielt eins der wenigen, nicht von Thom Yorke gesungenen Lieder, die du liebst: There's a fog along the horizon/A strange glow in the sky/And nobody seems to know where you go/And what does it mean?/Oh, is it a dream?

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Schmutzige Spiegel und räum endlich die Lockenwickler an ihren Platz und alles muss man dir zwei Mal sagen und strohiges, aschblondes Haar, ungepflegt, das darf es nicht geben, Friseure mit ungepflegtem Haar, nicht in meinem Salon, nicht hier, Viola du kannst gehen, jederzeit, ich halte dich nicht auf, Viola, Viola, blauen Glasreiniger, hätten die nötig, die Spiegel und los, worauf wartest du, spring, wenn du noch kannst, Viola, winzige Stoppelhärchen, die sich in Körperoberflächen beißen, Viola, es gibt kein Entkommen, wenn du nicht endlich diesen verdammten Besen in die Hand nimmst!

Und auf dem Nachhauseweg diese Frau. Eine verstörende Vertrautheit, als hätte man irgendwann schon einmal irgendwas miteinander erlebt, als hätte es schon einmal einen Anfang gegeben.

Adam

"Und Abimelch sprach weiter zu Abraham: Wie bist du dazu gekommen, daß du solches getan hast? Abraham sprach: Ich dachte, gewiß ist keine Gottesfurcht an diesem Ort, ..." 1. Mose, 20, 10 u. 11

Morgen wäre es einmal wieder vorbei. Diese Welt, diese isolierte, diese nach warmen Zucker, nach vergossenen Bier, Erbrochenem, nach vollgepissten Büschen duftende Woche eines Festplatzes. Kinder mit vielfarbenden Plastik in der einen, ihre Eltern an der anderen Hand. Gelächter fremder Menschen, fremder Witze. Lichter der Schaubuden, die, so oft gesehen, die verschiedensten Menschen, alle im gleichen Schein erfassen. Zurück nachhause. Was im Prinzip nur eine andere Konstellation der Wohnwagen bedeutet, nur kein warmer Zucker, nur kein vergossenes Bier. Der Discofoxbeat des Zeltes leitete den letzten Abend ein, die letzte dröhnende Nacht, in der Adam versuchte zu schlafen und es nicht gelang. Das Starren an seine kleine farblose Gardine, die Farben der Lichtmaschine aus dem Zelt eingefangen und nun ständig rot, gelb, grün flackernd, machte Adam nicht müde. Es war ihm so bekannt, es nervte nicht, doch Einschlafen ging dennoch nicht. Vielleicht noch einmal anziehen, rausgehen, versuchen auszusehen als würde man nicht auf der anderen Seite sein als würde man nicht nicht dorthin gehören. Einmal an den Wohnwagen seiner Familie vorbeigehen, in manchen brannte noch Licht, in manchen nicht. Die geschlossenen Büdchen sahen unbekannt aus, das Kettenkarussell, die Ketten wogen sich nur leicht im Wind, stand unbeachtet da, auf seinen blechernden Stufen einige zu alte Kinder, rauchend, trinkend, tratschend. Hinter dem Autoscooter, die schwarze dicke Plane im Rücken, war es fast still. Die Musik wurde hier dumpf, die Menschen nicht zu hören. Adam schaute raus, zwischen den Bäumen entlang, auf den weiten Acker. Dunkle, verschluckte Stille. Doch Adam war wachsam. Er sah etwas aufblitzen, nicht dazugehören, im Augenwinkel verschwinden. Er reagierte, sprang in den kleinen Grabenlauf der vor ihm lag und rannte, schwarze Tannen, Äste, Nadeln peitschten an Hals, Wange, Stirn. Dann versteinernde er. Es rieselte zwischen Hemd und Haut. Es juckte, doch er blieb still. Nichts fokussierend, alles schwarz, verschluckend, nahm er alles wahr. Ein Standbild vor seinen Augen. Wo war der Fehler? Was gehorchte nicht? Es blitzte erneut. Eine winzige, erhellte Projektion auf seiner Netzhaut, zurechtgedreht, erkannt und abgesprungen. Knisternd, zerberstend, landete er im toten Geäst und griff danach, nach dem Blitz.
Er war weich, der Blitz, er war kein Blitz. Klein und hell und weich, so weich, wie schon lange nichts mehr. Adam schaute auf, doch es war weg. Nur noch das Dunkel war da, das verschluckende. Keine Bewegung, kein Licht. Kein heller, weicher Blitz.

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Als Pina um sieben Uhr morgens aufsteht, sind ihre Eltern schon weg, nur ein Zettel auf dem Tisch: „Die Lokführer streiken weiter, Liebe Grüße Mama + Papa“ und Pina fragt sich, was denn streikende Lokführer eigentlich so machen. Stellt sich vor wie alle zusammen in einem Wagon sitzen, Karten spielen und Tee trinken oder vielleicht sogar einen Ausflug in die Berge unternehmen. „Viel Spaß“, schreibt sie auf das Papier. Setzt sich ans Fenster, an dem die Wassertropfen langsam hinunter laufen, dennoch nie die Kakteen erreichen, dieser Dienstag ist sehr Orange, ein unangenehm starker Farbton, auch von viel zu ungezähmter Form, solche Dienstage mag sie nicht, erst recht nicht, wenn sie nach Salami riechen. Marvin und Leo klettern auf den Tisch, schauen aus ihren Mäuseknopfaugen, stimmen ein „Don’t worry be happy“ an in wunderbar rosafarbenen Tönen, „Was hast du geträumt heute Nacht?“, fragen sie. Das Bild verschwimmt in einem Klangsalat aus Fantasielauten, alles rutscht durch einen Strudel aus Farben, die Sicht wird wieder klarer:
Eine Limousine saust von links ins Bild, am Steuer die Präsidentin auf den anderen Sitzen und im Kofferraum mindesten 47 Kinder verschiedenfarbigster Hautfarbe, alle adoptiert, sagt die Präsidentin lächelnd ins Mikrofon, beginnt die Wahrscheinlichkeitsrechnung zu referieren, die Kinder schreiben eifrig mit, wir müssen, sagt die Präsidentin lächelnd ins Mikrofon, wirft die Zettel aus dem Fenster, drückt aufs Gaspedal, die Limousine hupft ein paar Mal, verschwindet im Staub. Farbstrudel, Klangsog, Größenangleich. Die Mäuse und Pina lachen, Pina wirft sich den Schulranzen über die Schulter: „Muss los“, nimmt den Fahrstuhl, der genau 23 Sekunden braucht, rennt auf die Straße hinaus gegen einen auf Zehenspitzen laufenden Mann („Pass doch auf!“), Gehwege entlang, durch die Poststraße, matschige Blätter, Zebrastreifen, Pfützen, Treppen, Gänge, Mathematik.

Was hier passiert:

Anfang. Ende. ist ein virtuelles Romanprojekt des Studiengangs Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus: dreizehn Personen, eine Katze, ein Hase und eine fremde Macht. Die Zeichen stehen auf Sturm. In Tagen wird es vorüber sein.

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Impressum:

Aline Kappich, Azar Mortazavi, Clara Ehrenwerth, Eva-Lena Lörzer, Fabian Hischmann, Florian Balle, Hieu Hoang Duc, Janna Schielke, Julia Schulz, Max Balzer, Phillip Hartwig, Sebastian Albrecht, Sebastian Polmans, Susanne Kruse. Moderiert von Jule D. Körber und Lino Wirag.

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