Beobachtung Nr. 3749
Punk: meist bunte Haare und rissige Kleidung, manchmal Piercings (s. S.67); laute, schnelle, anspruchslose Rockmusik (s.S. 306); rüdes Benehmen, Alkoholkonsum; eigentlich seit den achtziger Jahren untergegangen (siehe auch Retro, S. 452) Das schien zutreffend zu sein, Fritze Wegner konnte getrost hinter „sehr jung (unter 16), weiblich, in der Gruppe“ das Charakteristikum „Punk“ setzen. Wobei ihn dies zierliche Wesen in dem kurzen Faltenrock und den dicken Stiefeln eher an eine Dryade, oder an eine Elfe erinnerte, auch wenn diese wohl kaum auf dem Marktplatz Dosenbier getrunken hätte. Doch die Kleine war in ihrer Bewegung und Stimmfarbe so glockenklar wie es sonst nur in den alten Mythen beschrieben wird und heute von schwarzem Kajal übermalt wird. Die Punkelfe war mit Abstand das interessanteste Objekt, denn sie flitzte von einem zum nächsten, lachte und ließ sich bewundern, während die meisten der anderen Objekte lethargisch die angenehme Luft mit Blicken durchlöcherten und ihre Faulheit zur Schau stellten. Schon eine ganze Weile sah Fritze Wegner, aus gebührenden Abstand versteht sich, der Punkelfe beim „saufen“ (S. 45) und „sich unterhalten“ (S.77) zu und hoffte auf ein Ereignis, eine Kuriosität, etwas, dass die Punkelfe zu besonderem oder auffälligem Verhalten veranlassen würde. Nichts, seit Stunden. So erhob er sich langsam von der unbequemen Holzbank und schritt auf seinen Stock gestützt Richtung Bäckerei, die ohnehin um neunzehn Uhr, das heißt in sieben Minuten und zweiunddreißig Sekunden, schloss. Als er sie erreichte war bereits Ladenschluss, doch die Verkäuferin (ca. 40, pummelig) wartete freundlicherweise. „Tut mir leid, die alten Knochen machen’s nicht mehr so“, entschuldigte er sich, worauf sie nur lachte: „Wir sind doch alle nicht mehr die Jüngsten!“ Und damit hatte sie recht. Wer ist heute schon noch jung?, fragte sich Fritze Wegner, als er seine Mehrkornbrötchen mit Schmalz bestrich und wusste genau wie absurd, wenn nicht gar anmaßend diese Frage war. War er doch derjenige, der am allerwenigsten wusste, was „jung sein“ überhaupt bedeutete. Diese zermürbenden Gedanken vertreibend, verließ er die kleine Küche mit Klappsofa, die er auch zum schlafen nutzte und betrat den wichtigen Teil seines Reihenhauses. Das Medienzimmer mit Computer, Fernseher, Playstation und ähnlichem Schnickschnack ließ er hinter sich, genau wie die Bibliothek, in der sich Notizordner und Zeitschriften säuberlich zwischen den Regalbrettern aufstellten, und ging stattdessen zum heiligsten Ort von allen, dem Kabinett. Er heftete das Foto der Punkelfe, nebst Kurzbeschreibung an die Wand zwischen die weinenden Mädchen bei dem Boygroup (S. 656)-Konzert, den Studenten mit dem Joint (S. 3) und den drei pummeligen Jungs, die versuchten ihr Dosenbier durch die Nasenlöcher zu trinken. Mit ein wenig Stolz bemerkte Fritze Wegner, dass nicht mehr für viele Fotos und Kurzbeschreibungen Platz sein würde in seinem Kabinett, was übrigens entgegen seiner Notizen keinerlei Ordnung besaß. Geschminkte Mädchen mit Schulranzen, eine Pfadfindergruppe, junge Männer mit kahl rasierten Schädeln, Oberschülerinnen in einem Kaufhaus, ein Mädchen mit langen Haaren mit einem dicken Buch, ein ernster Junge mit Zeitung, eine Musikerin in der Fußgängerzone, Massen von jungen Menschen in einer Großraumdisko, schwarze Gestalten unter einem riesigen Sonnenschirm, gelangweilte Jugendliche an einer Straßenecke, Fritze Wegner auf einem Stuhl sitzend belächelte all seine Schätze, die er, jeden einzelnen, liebte, aber die erst im Gesamtbild wirklichen Wert hatten. Denn das Gesamtbild, das Gesamtbild, das Gesamtbild könnte vielleicht irgendwann eine Antwort geben, die Fritze Wegner aber möglichst schnell brauchte, viel Zeit hatte er nicht. „Wer hat heut zu Tage schon noch Zeit“, dachte Fritze Wegner und wusste aber, dass seine Lage viel ernster war.
Fritze Wegner - 16. Nov, 16:50