Mittwoch, 28. November 2007

Kontratanz

E8CALVS675CAQV6BT3CAWBBFRNCA1LR5RJCAHRY1OPCA4XPZ3CCADOAF7ACA4039CMCAFE8029CAL510M6CAGPEKOKCACYF9HLCAXHHKGGCAR5J1S0CAZNDEQ2CAKJ2CSBCA1DTI5FCAQ57RFFCA8GHFV3Der Rathausbau wurde in der Regel im Zentrum der Städte errichtet. Der Rathausturm beherbergte oft die einzige Uhr der Stadt.

Er ist jetzt da. Am Rand der Mitte. In der Mitte des Randes und sieht nichts. Vielleicht ist nichts zu sehen, weil alles normal ist. Manchmal ist wieder alles wie immer, wenn Altes fort ist, es endlich anders ist, als jemand etwas verändert hat. Was Anarchie ist, wusste er nicht. Es konnte ihm nur auffallen, wenn keine vorhanden war. Es könnte sein, dass jetzt Anarchie ist, weil jemand die Mitte geklaut hat. Im Traum war das einfach, er konnte die Anarchie riechen und selbst ein Keks schmeckte danach, als die Anarchie Töne zu machen begann. Man konnte nicht wissen, ob der Geruch diese machte oder die Urheberin selbst. Tauben bringen die Freiheit auf Flügeln. Vögel werden seltsam und reißen Haare aus dem Kopf, wenn sich Krallen in Kopfhaut verankern. Die mächtige Mitte mit ihren Zeigern war fort. Raum und Zeit also mit ihr. Ort noch da. Anarchie jetzt auch. Checkliste ende.

Der Begriff Anarchie (griech. ἀναρχία, „Herrschaftslosigkeit“; Derivation aus α privativum und ἀρχή, „Herrschaft“) bezeichnet einen Zustand der Abwesenheit von Herrschaft.

Jetzt beginnt er sich umzuschauen und es ist alles anders, wie immer. Er könnte Leute beobachten, wenn er nur wollte und das wunderbar von unten. Ein Mann neben einer Laterne rechts frontal vor ihm. Kommt vom Arzt. Manchmal hatte er danach Früchte gegessen. Er hatte sie mit seinem schärfsten Messer zerteilt, alle Kerne entfernt und sittsam auf einem Teller nebeneinander gereiht. So hatte alles seine Ordnung. Und Ordnung war sein ganzes Leben gewesen, bis eine rothaarige, vielleicht blonde Frau Liebeskummer gehabt hatte, sich ihren Leopardenfellmantel anzog, beschloss sich noch einmal jung zu fühlen und sich den pinkfarbenen Lippenstift nachziehend in eine Autokarawane gerast war. Seit diesem Tag helfen ihm Leute für Geld in die Strümpfe. Seit diesem Tag muss er auf den Boden schauen, wenn Blicke ihn auf der Straße wie Pfeile treffen. Und seit die Pfeile in seinem Gesicht öfters stecken bleiben, hat es noch einige Löcher dazu bekommen.
Zeitlupe. Alles schwebt an ihm vorbei. Schwebt in seinem eigenen Rhythmus. Unter Wasser. Alles ist untergetaucht. Weiter nicht. Sonst hört alles auf zu atmen. Zirkulation gestört. Die Luft ist still. Stiller als Atem. Alles atmet im Takt. Ein kleines Mädchen. Es stürmt in ihr. In Bewegung sein. Zirkulieren. Tief im Takt atmen. Zu ihren Träumen tanzen. Tanzen und tanzen und nicht mehr aufhören. Tanzen und lachen. Lachen und tanzen und tanzen und lachen. Sie lacht und tanzt dazu. Sie hört sich lachen. Auch dann noch, wenn sie aufwacht.

...

Wieder gut

Braunscheid hatte Verständnis dafür, dass ihn die meisten Fahrgäste unfreundlich behandelten, da er wusste, dass sich die meisten seiner Kollegen nur durch das Brüllen einiger weniger Vokabeln (“Endstation!”, “Aussteigen!”, “Jetzt aber mal los hier, ich hab Pause!“) mit ihnen verständigten. Umso mehr war er darauf bedacht, nett zu den Menschenmassen zu sein, die sich tagtäglich an ihm vorbeischleppten, ihre Fahrausweise in Braunscheids Sichtfeld platzierten und nicht merkten, dass er die gar nicht sehen wollte, sondern sich voll und ganz der lächelnden Betrachtung ihrer Gesichter hingab. Wer interessierte sich schon für die blassen Passbilder und den Gültigkeitsaufdruck auf den Ausweisen?
Und dann stand an der Haltestelle Steinweg, an der wegen der nahe gelegenen Schule zu den entsprechenden Stoßzeiten immer viele Kinder einstiegen, plötzlich das kleine Mädchen neben ihm. Er hatte in der vorherigen Nacht lange wach gelegen und darüber nachgedacht, wie er sich für seinen Ausraster bei ihr entschuldigen könnte, falls er sie - und das war aufgrund der niedrigen Einwohnerzahl der Stadt und seiner Knotenpunktposition als Busfahrer sehr wahrscheinlich - einmal wieder treffen sollte. Aber ihm war nicht eingefallen, wie er seinen ungeheuren Fehler jemals wieder gut machen konnte. Und da stand sie nun, ganz anders, als er sie sich seit dem furchtbaren Crash immer wieder vor Augen gerufen hatte, auf atemberaubende Weise gewöhnlich, ein blondes Kind mit riesigen Augen, entschlossen, fast wild - kein zerbrechliches Ding, dass sich durch eine Unachtsamkeit sofort in einen heulenden Scherbenhaufen verwandelt hätte.
Erst als das Mädchen ihm seine Monatskarte entgegenhielt, schien es Braunscheid zu erkennen. Der sagte mutig: “Guten Tag”, und das Mädchen: “Guten Tag”. Aus Mangel an weiteren Worten drückte Braunscheid auf den roten Knopf unter seinem Finger - die Türen schlossen sich, Braunscheid fuhr an.
“Jetzt schauen Sie doch nicht so”, sagte das Mädchen und holte tief Luft: “Für unseren gestrigen Zusammenstoß möchte ich mich in aller Form bei Ihnen entschuldigen. Die Schuld liegt ganz bei mir - ich war unaufmerksam. Geht es Ihnen gut?”
“Danke, ausgezeichnet!”, sagte Braunscheid. Das Mädchen nickte ihm ernst zu, sagte “Ich freue mich, das zu hören” und starrte einem dürren, beinahe giftgrünen Baum hinterher, den sie gerade passiert hatten. „Haben Sie das Gefühl, schon einen Alien in sich drin zu haben? Ich bin mir nämlich nicht so sicher, ob man das merkt, wenn sie da sind. Marvin sagt zwar, sie haben nur die Bürokratie geklaut, aber ich glaube, dass es alles viel, viel schlimmer wird. Aber ich weiß eben nicht, ob man es merkt, irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass es einen lauten Knall oder so was geben wird und dann sind alle verwandelt. Es wird sicher viel geheimnisvoller“, sagte das Mädchen und war im nächsten Augenblick schon nach hinten gerannt, in die letzte Reihe, wo Braunscheid sie während der ganzen Fahrt selig auf dem Überwachungsbildschirm, der über seinem Kopf angebracht war, beobachten konnte. Sie aß rosa Brauseufos und hatte alles in ihrem unglaublichen Blick.

Was hier passiert:

Anfang. Ende. ist ein virtuelles Romanprojekt des Studiengangs Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus: dreizehn Personen, eine Katze, ein Hase und eine fremde Macht. Die Zeichen stehen auf Sturm. In Tagen wird es vorüber sein.

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Impressum:

Aline Kappich, Azar Mortazavi, Clara Ehrenwerth, Eva-Lena Lörzer, Fabian Hischmann, Florian Balle, Hieu Hoang Duc, Janna Schielke, Julia Schulz, Max Balzer, Phillip Hartwig, Sebastian Albrecht, Sebastian Polmans, Susanne Kruse. Moderiert von Jule D. Körber und Lino Wirag.

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